Hamburg. Die Rolling Stones, Bono, Bobby Gillespie, Jarvis Cocker und Bob Dylan: In der Sparte Musikbuch gibt es derzeit einige Highlights.
Von Bob Dylan muss man zuerst sprechen, wenn es um neue Musikerbücher geht. Der famose Kerl, der das poetische Songwriting neu erfand, hat schließlich sehr zum Verdruss langweilig puristischer Kommentatoren vor ein paar Jahren den Literaturnobelpreis bekommen. Dylan hat zuletzt, als auch bei ihm ein paar Konzerte ausfielen, Zeit gefunden, tatsächlich ein Buch zu schreiben. Wir stellen es auf dieser Seite vor. Ob man übrigens beim Lesen Musik hören kann, ist eine Glaubensfrage. Sie sei hier dennoch eindeutig beantwortet: Kann man, sollte man, muss man.
Zumindest wenn man eine Analyse von „London Calling“ liest, muss The Clash aus den Boxen brettern. Alles andere wäre Trockenschwimmen.
Neue Musikbücher: Die Highlights
Jarvis Cocker hat die guten Jahre der Musikindustrie noch voll mitgenommen. „Different Class“, das epochemachende Pulp-Album, erschien 1995 auf dem Peak der fantastischen Britpopwelle. „Made in England“ war damals ein glorreiches Gütesiegel, und Jarvis war mit dabei. Wurde so wohlhabend, dass er eine Wohnung in London, scheint’s, behalten konnte, als er nach Paris umzog. Zumindest, das wissen wir nach der Lektüre des erstaunlich amüsanten Buchs „Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens“ (Kiwi, 28 Euro), hat er in London einen Dachboden, den er 20 Jahre lang nie entrümpelte.
Cocker, so erklärt er seiner Leserschaft, ist immer wieder mal dort oben gewesen. Aber erst spät kam er auf die Idee, dieses ganze in einem bis zum Umzug auch schon 40 Jahre währenden Leben angesammelte Zeug mal zu sortieren respektive wegzuschmeißen – und über diesen Vorgang einen Bericht zu schreiben. Als eine „Müllhalde“ bezeichnet Cocker den Dachboden, aber wirklich ernst gemeint ist das nicht.
Denn er rettet ziemlich viel, es sind ja alles nostalgische Dinge, die mit seiner Liebesgeschichte mit der Popkultur zu tun haben. Aufnäher („Wigan Casino“), Fotos, Hemden, Notizbücher, Kaugummis, Kassetten, Secondhand-Hemden, auf dem Flohmarkt gekauft; natürlich erzählt Jarvis Cocker in diesem Buch mit den Dingen sein Leben. Die Lederhose, die ihm ferne bayerische Verwandtschaft einst schenkte und über die er schon bei anderer Gelegenheit redete, ist leider nicht erhalten.
Dafür erzählt er von seiner eigenen sexuellen Aufklärung und im Kontrast dazu von der seines Sohnes. Der Senior hatte lediglich ein im Bus aufgefundenes, unanständiges Witzebuch mit brauchbaren Erotikbildern zur Verfügung. Er hat es nie weggeworfen: Schätze wie diese liegen halt auf Dachböden.
Bobby Gillespie: „Tenement Kid“
Ein weiterer Text ist der beste, den man sich denken kann. Der ultimative Text, der die immerwährende Lust auf Musik neu erweckt, der die Sucht nach Musik aufs neue anzutreiben vermag. Weil Bobby Gillespie, den Courtney Love ganz toll den „Oliver Twist des Rock’n’Roll“ und sein Buch „ein Punkrockmärchen“ nennt, auch Jahrzehnte später seine Rockstarwerdung immer noch mit einer Unschuld und einer beinah kindlichen Begeisterung beschreibt, dass man sie nicht anders als ansteckend bezeichnen kann.
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Dabei ist das alles aus pädagogischer Sicht mit Vorsicht zu genießen. Gillespie, der seit fast anderthalb Jahrzehnten ohne jegliche Bewusstseinserweiterung, ohne Suff und Druff lebt, war für lange Zeit ein euphorischer Konsument von diesem und jenem, er erzählt in seiner Autobiografie „Tenement Kid“ (Heyne, 24 Euro) ausführlich von den Pillen, die seine Freunde und er sich in den Achtzigern und Neunzigern einschmissen.
Es war die Zeit, in der Gillespie meist glücklich war, wenn er ein paar Platten kaufen und auf Konzerte gehen konnte. Der Sohn eines Gewerkschafters – über seine Arbeiterherkunft gibt Gillespie ausführlich Auskunft – nippte erstmals Mitte der 80er als Schlagzeuger von The Jesus and Mary Chain vom Ruhm. Wahnsinn, wie aggro das britische Publikum damals war: Bierflaschengeschosse und Schlägereien waren völlig normal.
Zum Jahrzehntwechsel, zwischendurch lebte Gillespie von der Stütze, kam endlich der Erfolg mit Primal Scream, dank Andy Weatheralls genialen Remixen, dank dem Dance im Rock, dank Acid House, dem zunächst so unwahrscheinlichen Monsterhit „Loaded“ und der legendären LP „Screamadelica“. Gillespie beamt sich zurück in die erste Hälfte seines Lebens; erstaunlich, an wie viel er sich erinnert, war er doch kaum je nüchtern.
Bono: "Surrender. 40 Songs, eine Geschichte“
Bono hat’s insgesamt übertrieben mit seinem Messias-Gehabe. Die Welt wollte er stets retten, und dass er dafür wichtige Leute traf, ist ein Umstand, den er in seiner Autobiografie niemals verschweigen könnte. Also berichtet Bono in „Surrender. 40 Songs, eine Geschichte“ (Droemer-Knaur, 32 Euro) in einem übrigens bisweilen auch enervierend sprunghaften Erzählstil unter anderem, wie einmal Gorbatschow in seinem Dubliner Haus aufkreuzte oder wie ihm Angela Merkel auf dem Laptop ein Popvideo auf Youtube vorspielte.
Aber ist das wirklich so schlimm? Und ist der U2-Chef nicht auch (manchmal zu bemüht) selbstironisch? Der Aktivist Paul Hewson, wie Bono mit bürgerlichem Namen heißt, hat immer versucht die Welt besser zu machen. Dass seine besserwisserische Streberhaftigkeit zu laut war manchmal, hat der Schreiber dieser Zeilen dem Sänger von Songs wie „Where the Streets Have No Name“ und „Even Better Than the Real Thing“ aber längst verziehen, und auch, dass er 2014 Abermillionen von iPhone-Nutzern unverlangt ein ganzes U2-Album schenkte. Auch diese Episode lässt Bono in seinem, natürlich, übertrieben dicken Buch nicht aus. Den Größenwahn erkennt er im Nachhinein selbst, urteilt aber milde über die eigene Aufgeblasenheit.
Das Buch ist für Fans der irischen Band, die eine der besten aller Zeiten ist (nur Ignoranten behaupten Gegenteiliges), eine verpflichtende Lektüre. Bono erzählt von sich und von Larry Mullen Jr., Adam Clayton und The Edge, seiner Band seit so Langem. Von den schlimmen „Achtung Baby“-Sessions in Berlin und vom frühen Verlust der Mutter, die bei der Beerdigung ihres Vaters einen Hirnschlag erlitt. Bonos Vater wiederum, er sang in seiner Freizeit, urteilte hart über den Sohn; er sei „ein Bariton, der sich für einen Tenor hält“.
„The Stone Age. 60 Jahre The Rolling Stones“
Was, auch ein neues Buch über die Rolling Stones, muss sein, echt? Nein, muss es nicht. Die immer ein wenig überschätzten Stones, die halt immer viel, viel unbedeutender als die Beatles waren, aber trotzdem immer eine tolle Rockband, diese ewigen Stones muss es ja streng genommen auch nicht mehr geben. Schon gar nicht jetzt, wo der glorreiche Charlie Watts (1941-2021) nicht mehr lebt. Die Journalistin Lesley-Ann Jones widmet Watts in ihrer lässig und kaum gebremst geschriebenen Bandbiografie „The Stone Age. 60 Jahre The Rolling Stones“ (Piper, 28 Euro) ein paar warmherzige Zeilen. Es ist nicht schwer zu erkennen, wem die Sympathien der Autorin gelten, die bereits in ihren Kindheitstagen mit David Bowie bekannt war. Jones hat mehrere Bücher über Popidole geschrieben, so bissig wie Mick Jagger („Geld regiert die Welt. In Jaggers Welt ist es das Einzige, was zählt“) ist sie wenigen begegnet.
Über die Stones sind viele Bücher geschrieben worden, nicht zuletzt von den Bandmitgliedern selbst. Man kennt viele der Mythen, die über sie im Umlauf sind; aber weil Lesley-Ann Jones so schreibt, wie sie schreibt, parteiisch, engagiert, beteiligt, geschliffen, erhalten die Geschichten die nötige Auffrischung. Jones hat Stones-Buch-Meter gefressen, mit Weggefährten gesprochen und, im Hinblick auf den früh gestorbenen Brian Jones einen Psychologen konsultiert, der Jones’ Verlust der Schwester im Kindesalter zum Ausgangspunkt seiner schwierigen Persönlichkeit deklariert. Überhaupt hält sich die Autorin nie zurück, was Bewertungen und Einordnungen angeht. Wie gesagt, das ist gut so. Die biografischen Abrisse sind alle lesenswert.
Das gilt auch für den Gossip, na klar. Womanizer Mick Jagger soll gelegentlich auch mit Männern zugange gewesen sein. Geschwätz? Ja, aber interessantes.
Bob Dylan: „Die Philosophie des modernen Songs“
Und zum Finale: Dieses mit Tamtam veröffentlichte Buch ist schön gestaltet, Fotos, Abbildungen, ansprechendes Layout der Seiten und so. Auch deshalb ist das hochtrabend „Die Philosophie des modernen Songs“ (C.H.Beck, 35 Euro) betitelte erste Buch Bob Dylans seit den „Chronicles“ (erschienen 2004) eine sinnliche Angelegenheit. Man blättert wahnsinnig gerne in ihm und lässt sich auf jeder Seite überraschen; man könnte sagen, die Zusammenschau von ziemlich unterschiedlichen Stücken ist gut kuratiert. Das liegt daran, dass keiner von ihnen erwartbar ist.
Domenico Modugnos „Volare“? Hätte man nicht drauf gewettet. Wahrscheinlich, weil man zu wenig Fantasie hat. Bei genauer Betrachtung hatte Dylan schon immer eine Schwäche für das Einprägsame. „Volare“ (oder auch: „Nel blu dipinto di blu“) war 1958 ein Nummer-eins-Hit in den Billboard Hot 100. Dylan, dem Dichter und Bilder-Sucher, fallen ein paar Absätze zu diesem schönen Lied ein, für dessen inhaltliches Verständnis Normalsterbliche ein italienisches Wörterbuch brauchen oder Google Translate. Dylan assoziiert sich was zusammen über das Fliegen („volare“), und es liest sich ganz wundervoll dahingeschrieben: „Bei Wolke sieben ist es nur ein Katzensprung. Du jettest los und fliegst Manöver wie ein echter Pilot.“
Doch, das passt zu diesem Lied. Das ganz einfache Imaginieren. „London Calling“ von The Clash und „Black Magic Woman“ von Santana sind zwei der 65 weiteren Songs, die Dylan ausgewählt hat. Mal, siehe oben, ist er ganz auf den textlichen Deutungsebenen unterwegs, mal nimmt er musikhistorische Betrachtungen vor. Und wenn es Dylan ist, der über The Grateful Dead, Nina Simone und Elvis („Money Honey“) schreibt, dann liest man das halt gebannt. Er ist His Bobness.