Hamburg. Kristjan Järvi und sein Baltic Sea Philharmonic feiern mit Pianistin Olga Scheps eine Rhythmus-Party. Nur eines wirkt ein bisschen drüber.

Auf dem Papier liest es sich wie ein Routineprogramm für die Adventszeit: Tschaikowskys Nussknacker und das Klavierkonzert von Grieg. Könnte ein grundsolider Klassik-Abend werden.

Wird es aber glücklicherweise nicht. Im Gegenteil. Kristjan Järvi und sein Baltic Sea Philharmonic versprühen eine riesige Lust auf die Musik und den Kontakt mit dem Publikum, sie feiern am Ende eine Rhythmus-Party – und ernten dafür die vielleicht schnellsten Standing Ovations in der Geschichte der Elbphilharmonie.

Schon zu Beginn bricht das Konzert die gewohnten Abläufe auf. Das Licht ist gedimmt, die Rückwand blau beleuchtet. Die jungen Musikerinnen und Musiker – zwischen Anfang 20 und Anfang 30 – gehen nicht einfach auf die Bühne, sie schreiten. Und sie spielen dabei schon. Gehaltene Töne, aus denen nach und nach ein Akkord entsteht und den Raum erfüllt. Geheimnisvoll, ein bisschen mystisch.

Kristjan Järvi arrangiert den Nussknacker in der Elbphilharmonie brillant

Erst dann kommt Järvi dazu, schaut hoch, als würde er den Saal und den Klang bestaunen. Dieses Staunen zurückzubringen, als Grundhaltung gegenüber der Musik: Das ist ein Leitmotiv des Programms „Nutcracker Reimagined“, von Järvi brillant arrangiert und mitinszeniert.

Bei innigen Passagen legt er die Hand ans Herz, er geht in die Hocke für die leisen Momente oder tänzelt und wippt, als er die Tarantella des Nussknacker-Prinzen antreibt. Er gibt auch die wichtigen Einsätze. Dirigieren im herkömmlichen Sinne tut er eher selten.

Aber das ist auch nicht nötig. Denn die Mitglieder des Baltic Sea Symphony, die aus den Anrainerstaaten der Ostsee zusammenkommen, spielen komplett auswendig, im Stehen und ohne Pulte. Sie haben die Abläufe längst im Kopf und im ganzen Körper.

Olga Scheps schleicht sich rein und packt die Löwentatze aus

Manchmal schwingen sie gemeinsam im Takt, oder sie machen eckige Gesten, wie im Marsch aus dem Nussknacker. Später drehen sie sich zum Publikum, während Järvi die Besucherinnen und Besucher in den ersten Reihen ordentlich charmiert.

Hier und da wirkt seine Animateurspose ein bisschen drüber. Aber es geht nie bloß um die Show. Järvi und sein Ensemble nutzen die notenlose Freiheit, um spontan musizieren zu können. Wenn sie im russischen Tanz krass das Tempo anziehen, aber auch wenn sie die Melodien im Klavierkonzert von Grieg genießen und seismografisch auf die Nuancen der Solistin reagieren.

Olga Scheps hat sich irgendwann reingeschlichen, sie streichelt die Tasten und packt im nächsten Moment die Löwentatze aus. Griegs Konzert, der Nussknacker und kurze Stücke von Pärt und Elgar gehen bruchlos ineinander über. Järvi hat das alles gekonnt zu einem Ganzen verzahnt, aber so, dass immer noch Platz bleibt für einen Zwischenapplaus.

Sehr organisch, das alles, sehr durchlässig. Die Bläserinnen und Bläser kommen für ihre Solopassagen – herausragend: der lettische Hornist Artur Reinpold – nach vorne und gehen dann wieder an ihren Platz zurück, setzen sich auch mal hin, wenn sie Pause haben.

Ja, technisch ist nicht alles perfekt. Aber wen interessiert das schon an einem Abend, der eine so mitreißende Energie entfacht. Der es schafft, tausendfach gespielte Werke wie neu klingen zu lassen – und das Musikerlebnis ganz nahbar zu machen. Ein starker Auftritt, mit frischen Impulsen und Ideen für das Format „Klassik-Konzert“.