Hamburg. Regisseurin Katie Mitchell inszeniert Tschechows „Der Kirschgarten“ am Deutschen Schauspielhaus ganz anders als gewohnt. Ein Interview.

Es grünt sehr grün auf der Probebühne des Deutschen Schauspielhauses. Man würde den riesigen Raum so nicht vermuten in dem Wandsbeker Hinterhof, in dem von außen alles nach Bürogebäuden aussieht. Hier probt Katie Mitchell, die britische Theaterregisseurin, die eine lange Arbeitsbeziehung mit Karin Beier und dem Schauspielhaus verbindet, für ihre nächste Hamburger Premiere: „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow.

Eine großformatige grüne Leinwand, die Greenscreen, bestimmt den hinteren Bühnenbereich, vorn stehen zwei Glaskästen, Gewächshäuser vielleicht. Der Kirschgarten selbst spielt eine zentrale Rolle in Mitchells Inszenierung. Die Bäume haben buchstäblich die Hauptrollen übernommen. Ohne dass tatsächlich Bäume auf der Bühne stehen würden, übrigens. „Of course not!“, ruft Katie Mitchell. „Natürlich nicht! Wir fällen doch keine Bäume für eine Theater-Inszenierung!“

Gelegentlich kommt am Theater jemand auf die Idee, eine bekannte Geschichte aus einer anderen Perspektive zu erzählen – etwa aus weiblicher Sicht. Sie wollen Tschechows „Kirschgarten“ nun aus dem Blickwinkel der Bäume erzählen… Im ersten Moment klingt die Idee fast wie ein Scherz.

Katie Mitchell: Die Idee kam mir während des Lockdowns. Wobei: Schon vor rund zehn Jahren habe ich damit begonnen, an Projekten zu arbeiten, die sich um die Umwelt drehen – wegen der Klimakrise, mit der wir konfrontiert sind. Dies ist also eine Arbeit, die sich aus all den anderen Arbeiten entwickelt hat, die ich während der vergangenen zehn Jahre gemacht habe.

Es geht um die Balance zwischen dem Menschlichen und dem, was es außer dem Menschen noch gibt. Wir nehmen ein ikonisches Werk des Theater-Kanons und bringen es in die richtige Balance. Wir stellen den Menschen in den Hintergrund und die Natur in den Vordergrund. Bäume, Insekten und so weiter.

Wie muss man sich das genau vorstellen? Haben die Bäume Text?

Nein, dann würden wir sie ja vermenschlichen. Sie sind wie sie sind. Man sieht also die Prozesse eines Obstgartens im Verlauf der vier Jahreszeiten. Man hört alle Menschen, die in der Nähe des Gartens sind, man sieht sie, wenn sie im Garten sind. Sonst nichts. Die meiste Zeit verbringt man mit der Natur.

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  • In diesem Fall mit dem „Kirschgarten“ von Tschechow. Sie haben mal gesagt, dass Sie alles, was Sie über das Theater gelernt haben, vom russischen Theater gelernt haben.

    In meinen 30 Jahren als Regisseurin waren die ersten zehn oder 15 Jahre sehr davon beeinflusst, dass ich zu Beginn meiner Karriere nach Russland gegangen war, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer. Ich lernte viele Theater-Techniken kennen, die ich rund 15 oder vielleicht auch 20 Jahre lang ausprobiert habe. Aber das hat nicht mehr viel damit zu tun, was ich im letzten Jahrzehnt gemacht habe.

    Vielleicht sind noch Spuren davon da, vom System, mit den Schauspielern, Schauspielerinnen und dem Text zu arbeiten. Aber es ist nicht mehr mein Hauptinteresse. In diesem Stück ist man als Zuschauerin oder Zuschauer dazu eingeladen, sich über die Natur Gedanken zu machen, nicht darüber, was Menschen darin tun oder ob Menschen diese Natur zerstören.

    Sie waren Mitte 20, als Sie viel in Russland waren. Haben Sie dort noch Kontakte?

    Ein paar. Es ist wirklich sehr lange her. Mein Übersetzer damals hieß Arkady Os­trowski. Er begleitete mich, er war Dramaturgiestudent. Inzwischen ist er ein Politikkorrespondent für die „Financial Times“, ich sah ihn erst kürzlich auf Channel 4, wie er mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj sprach. I

    ch kontaktierte ihn anschließend, und er erzählte mir, dass sie auch über Stanislawski sprachen (ein einst wegweisender Schauspieler, Regisseur und Theaterreformer, der Tschechows „Kirschgarten“ 1904 am Moskauer Künstlertheater uraufführte, d. Red.). Das war ein schöner Moment.

    Sie haben alles von Tschechow inszeniert. Was interessiert Sie an ihm?

    Ich bin nicht besonders interessiert an Tschechow. Ich liebe sein Schreiben, aber dieser Naturalismus interessiert mich nicht mehr. Mich interessiert die existenzielle Krise, in der wir uns befinden.

    Aber Sie haben sich dennoch – wieder – für ein Stück von Tschechow entschieden. Oder hätte es auch jedes andere Stück, jeder andere Autor sein können?

    Vielleicht. Gute Frage. Dieses Stück spielt am Ende einer Weltordnung, genau im Übergang zu einer anderen Weltordnung. Auf der Kippe. Man fühlt, dass Tschechow seiner Zeit voraus war. Er wusste, was kommen würde, er wusste um die Revolution. Es passt also, es genau jetzt zu machen – wir befinden uns ebenfalls an einem Kipppunkt, am Ende von Kapitalismus und Wachstum, und wir gehen hinein in die Klimakatastrophe.

    Dieser Aspekt, die furchtbaren, existenziellen Probleme, auf die wir uns zubewegen, findet im Stück seinen Widerhall. Also, ja, es ist schon wichtig, dass es genau dieses Stück ist. Aber das Hauptaugenmerk liegt auf unserem Unvermögen, in Harmonie mit der nichtmenschlichen Welt zu leben. Am Ende laden wir – hoffentlich – das Publikum dazu ein, darüber nachzudenken, ob es einen anderen Weg gibt.

    Der Übergang von einer Welt in eine andere spielt ja auch auf einer anderen Ebene eine Rolle für „Der Kirschgarten“. Es ist Tschechows letztes Stück – und er wusste, dass er sterben würde. Spürt man das im Text?

    Er bekam seine Diagnose irgendwann in seinen Zwanzigern. Und er schrieb dieses Stück in seinen beginnenden Vierzigern. Er war ein Doktor, er verstand seine Krankheit und wusste von Anfang an, dass er daran sterben würde. Im Grunde war also jedes Stück sein letztes. Dieses Stück ist eine Kreuzung aus dem Wissen, dass er sterben würde und den historischen Geschehnissen.

    Und er schrieb es auf der Krim ...

    Ja, das ist wirklich sehr berührend, oder? Der Kirschgarten, der Pate stand, ist in der Nähe von Charkiw.

    Inwiefern spielt das eine Rolle für Ihre Inszenierung?

    Gar nicht. Wir versetzen es in ein Deutschland der Gegenwart.

    Die Figur der verarmten Gutsbesitzerin Ranjewskaja verschließt „die Augen vor der Wirklichkeit, bis die Wirklichkeit sie einholt“. Ist das ein Schlüsselsatz für Sie?

    Ja, das ist es. Nicht nur Ranjewskaja tut das, die gesamte Familie tut es.

    Tschechows „Kirschgarten“ ist eine Komödie ...

    Ich mache keine Komödien. Nie. Wir mögen an manchen Stellen lachen, wir weinen an anderen und manchmal ist es etwas dazwischen. Es ist so eine seltsame Art über Tschechow nachzudenken. Es gibt das Komödien-Lager und das Tragödien-Lager. Aber vergessen Sie nicht: Wir hören hier ja gar nicht so viel vom Stück. Die menschlichen Tragödien sind nicht im Zentrum. Nur Fragmente davon spielen eine Rolle. Wir beschäftigen uns mehr mit Bestäubung. Mit dem Sound von Bienen. Oder mit Vögeln.

    Wie sieht Ihre Vorbereitung für diese Inszenierung also aus?

    Ich habe mich vor allem damit beschäftigt, welchen Text ich weglasse und welchen man hört. Und wo genau der Kirschgarten liegt. Was wird wo gesagt? Ganz mechanisch. Wenn die Figuren am Haus ankommen – können wir sie nicht hören. Wenn sie im Haus sind – können wir sie nicht hören. Wenn sie ein Fenster öffnen – können wir ein kleines bisschen hören.

    Wenn sie es wieder schließen – hören wir wieder nichts. Jedes Mal, wenn jemand durch den Garten hindurchgeht, hören wir ihn oder sie. Sonst: nicht. Wir hören also vielleicht zehn oder 15 Prozent des Stücks. Es ist ein wirklich radikales Experiment!

    „Der Kirschgarten“ Premiere am 26.11., 19.30 Uhr, folgende Vorstellungen: 28.11., 8.12., 26.12., 5.1., 29.1., Deutsches Schauspielhaus, Karten unter www.schauspielhaus.de