Hamburg. Um neues altes Publikum zurückzuholen, machen sich die Intendanten auch zum Posterboy der Konkurrenz – mehr originelle Kooperationen.
In der Vorweihnachtszeit, da klingeln nicht nur im Einzelhandel die Kassen. In jenem Zeitraum wird in den meisten Theatern der größte Umsatz gemacht, werden die meisten Eintrittskarten verkauft. Normalerweise. Aber was ist in diesen Zeiten, in einer (hoffentlich) abflauenden Pandemie, während eines Krieges im Osten Europas, in einer Energiekrise mit hierzulande zweistelligen Inflationsraten, schon normal?
Da spielen die bisher recht hohen November-Temperaturen – unter dem „Dach“ des Klimawandels – auch in Hamburger Theatern nur eine Nebenrolle, um die teils verhaltene, bei manchen Produktionen sehr verhaltene Kartennachfrage des Publikums zu erklären. Doch Kreativität zeigt sich in der Freien und Hansestadt nicht nur auf der Bühne sowie mit der „Gönn Dir Kultur“-Kampagne der Kulturbehörde und von Hamburg Marketing, die auf die vielen Angebote in der Stadt aufmerksam machen soll.
Schlechte, zumindest aber schwierige Zeiten für viele Theater sind gute Zeiten für Theatergänger. Denn Hamburgs Bühnen buhlen um das Publikum, damit potenziell Interessierte voll und die Häuser halbwegs auf ihre Kosten kommen können.
Theater Hamburg : Spannendes Programm auf Kampnagel
Wie dem kulturellen Long Covid in der bis 2019 extrem besucherstarken Weihnachtssaison begegnet werden kann, spiegelt sich in neuen, ungewöhnlichen Aktionen und Kooperationen, sogar von städtischen mit privat betriebenen Häusern.
Das Kampnagel-Programmheft sowie den Online-Newsletter für November/Dezember etwa zieren mit Joachim Lux (Thalia) und Ulrich Waller (St. Pauli) überraschend zwei Intendanten anderer hiesiger Theater – als Good-Old-Cover-Boys. Indirekt hat die Kulturfabrik eine Videoumfrage der Gruppe God’s Entertainment aufgegriffen: Das auf Kampnagel bekannte österreichische Performance-Kollektiv hatte bereits 2014 auf den Straßen Wiens Menschen gefragt, ob sie lieber essen gehen würden, wenn sie Geld im Wert einer Theaterkarte geschenkt bekämen.
Ermäßigungen im St. Pauli Theater
Weil die Frage, was Theater wert ist, aktueller denn je scheint, hat Kampnagel-Leiterin Amelie Deuflhard gewissermaßen als Dankeschön für die Fotoaktion bei ihren Intendanten-Kollegen 50 Prozent Rabatt auf Eintrittskarten für Kampnagel-Newsletter-Leserinnen und -Leser ausgehandelt.
Im Thalia Theater gab es diese für zwei Vorstellungen von „Iphigenia“, im St. Pauli Theater für drei Vorstellungen des Stücks über den Schauspieler René Deltgen, „Im Schatten der Diktatur“; eine Ermäßigung gilt dort noch bis zum 19. November für Neil LaButes starkes Frauendrama „Die Antwort auf alles“ – sofern Interessierte beim Online-Kartenkauf den Rabattcode „Kampnagel“ in den Warenkorb eingeben. Dass der als Deltgen-Darsteller überzeugende André Jung vom 17. November an in der Inszenirung „Verrückt nach Trost“ auch auf Kampnagel zu erleben sein wird, legte die Kooperation nahe.
Das Thalia Theater hat 30.000 frühere Besucher gezielt angeschrieben
Jedoch ist Deuflhard mit ihrem Team davon überzeugt, „dass das Publikum nicht wegen der Rabatte ins Theater kommt, sondern wegen des Programms. „Ob wir die Menschen mit Vergünstigungen wirklich zurückbekommen, bezweifle ich“, sagt die Kampnagel-Intendantin. Man arbeite permanent daran, neues Publikum zu Kampnagel zu holen. „Wenn wir mit unseren Möglichkeiten Antworten geben können auf die Fragen, die die Menschen gerade bewegen, oder ihnen einfach gute, kluge Unterhaltung bieten, dann werden sie kommen“, ist Deuflhard überzeugt.
Das privat betriebene St. Pauli Theater bietet im November und Dezember dennoch an ausgewählten Terminen und produktionsbezogen weitere Ermäßigungen an, etwa 12-Euro-Tickets für Studierende, Schüler und Auszubildende.
Thalia Theater: "Die Leute kommen wieder"
Im Thalia Theater laufe es eigentlich zurzeit gar nicht schlecht, meint der kaufmännische Geschäftsführer Tom Till. „Die Leute kommen wieder trotz allem und lassen sich gerne anregen und verzaubern.“ Dennoch hat das Haus am Alstertor zur Reaktivierung seines Publikums in der Vorwoche eine große, datenbasierte Aktion gestartet. Bei der habe man alle 30.000 Besucher, die seit Beginn der Pandemie das Thalia Theater nicht mehr besucht hätten, gezielt angeschrieben und diesen das Angebot gemacht, im November für den Preis einer Eintrittskarte zu zweit kommen zu können, berichtet Till.
„Die Resonanz darauf hat uns selbst überrascht: Innerhalb von drei Tagen haben davon 1200 alte Besucher Gebrauch gemacht, die damit wieder zu neuen Besuchern werden“, sagt der Thalia-Manager. Viele hätten sich dafür bedankt, „dass wir an sie gedacht haben – auch für den dezenten Schubs, das Sofa wieder einmal gegen einen Platz im Theater einzutauschen“, so Tom Till.
Schauspielhaus bietet tollten Spielplan im Winter
Am 22. November kooperiert das Thalia Theater zudem mit seinem Nachbarn in direkter Nähe der Binnenalster, Hapag-Lloyd: Zur Veranstaltung „Europa in der Zeitenwende“, bei der die Ex-Bundesminister Joschka Fischer und Wolfgang Schäuble auf der Thalia-Bühne diskutieren werden, haben sich viele Beschäftige der Groß-Reederei angemeldet.
Das Publikum locken soll im Schauspielhaus vor allem der Spielplan: etwa die Tschechow-Inszenierung der britischen Star-Regisseurin Katie Mitchell („Der Kirschgarten“, Premiere: 26.11.), die aktuelle Erbschafts-Komödie „Jeeps“ von Nora Abdel-Maksoud im Malersaal (ab 18.11.) und, besonders für Familien interessant, „Herr der Diebe“ (ab 9 Jahre) nach dem Roman von Cornelia Funke, mit dem das Schauspielhaus vom 11. Dezember an nach zwei Jahren Pause wieder ein neues Familienstück auf die große Bühne bringt.
Angebot für junge Familien im Jungen Schauspielhaus
Neu in der Preispolitik ist seit dieser Spielzeit das 9-Euro-Ticket. Es gilt bei fast allen Vorstellungen im Schauspielhaus für Schüler, Studierende und Auszubildende bis einschließlich 29 Jahre, ebenso für Teilnehmende an Freiwilligendiensten und Empfänger von Leistungen, um insbesondere einkommensschwächeren Personen einen Theaterbesuch zu ermöglichen.
Besonderes Beispiel im Jungen Schauspielhaus sei der „Bloomy Sunday“ – „ein Angebot, das wir bereits das zweite Jahr in Folge anbieten, mit Unterstützung des Schauspielhaus-Freundeskreises“, erläutert Sprecherin Anna Röckl. „Alle zwei Monate laden wir an einem Sonntag junge Familien und das gesamte Publikum zu einem besonderen Menü und zum Verweilen im Theater am Wiesendamm ein.“ Der dritte Gang ist ein gemeinsames Mittagessen.
Hier können Familien untereinander und mit dem Team des Jungen Schauspielhauses in Austausch kommen. „Das Ganze spricht ausdrücklich auch Familien an, die sich einen Theaterbesuch eventuell nicht leisten können.“ Preis für das gesamte Menü, inklusive Theaterkarten: 5 Euro pro Person.
Ohnsorg: „Wir setzen auf die Strahlkraft unserer Inszenierungen“
Ernst Deutsch Theater und Ohnsorg bauen im November und Dezember auf die Vielfalt ihrer Stücke, haben keine Rabattaktionen geplant. „Wir bedienen ja grundsätzlich viele Werbemittel und hoffen einfach darauf, dass Daniela Ziegler und Jacques Offenbach und Anatol Preissler in Dreieinigkeit das Publikum locken werden“, formuliert EDT-Sprecherin Anja Michalke süffisant. Preissler inszeniert mit „Die Großherzogin von Gerolstein“ (24.11.) die erste Operette überhaupt am größten Privattheater der Stadt.
„Wir setzen auf die Strahlkraft unserer Inszenierungen“, sagt auch Ohnsorg-Sprecherin Leandra Staemmler. Das sind speziell zur Adventszeit verschiedene Angebote für alle Altersstufe: Vom Weihnachtsmärchen „Hase und Igel“ (Premiere 18.11., ab 4 Jahre) über die Komödie „All ünner een Dannenboom“ im Großen Haus bis zur anrührenden Romanadaption von „Altes Land“ nach Dörte Hansens Bestseller im Ohnsorg Studio.
Weihnachtsvorstellungen in Winterhude
Eine die Nachfrage belebende Rabattaktion ist in der Komödie Winterhude bereits abgeschlossen: Für die bis 20. November laufende Wiederaufnahme des Stefan-Vögel-Stücks „Schuhe Taschen Männer“ mit Sabrina Ascacibar (bis 10.11.) und Nina Petri hatten Theaterleiterin Britta Duah und Marketing-Mann Jan Mehler die Kartenpreise auf 19 Euro pro Person (statt 43 Euro) gesenkt, Zuschauer und Zuschauerinnen konnten vom 1. bis 6. November über den Newsletter der Komödie für alle Vorstellungen Plätze ihrer Wahl anklicken – mit dem Buchungscode „Modenschau“ ergab sich eine Ersparnis von 24 Euro.
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Es soll eine recht kurzfristige Ausnahme bleiben, doch auch diese Aktion hat die Platzauslastung der aktuellen Produktion auf gut 75 Prozent erhöht, Tendenz steigend. Etwa 63 Prozent der Karten seien zum Vollpreis verkauft worden, heißt es, zehn der knapp zwölf Prozent ermäßigten Karten liefen über den Buchungscode „Modenschau“. Auch für die kommenden Produktionen wie „Schöne Bescherungen“ (ab 25.11.) und „Aschen Puttel“ (2.12.) ist die Komödie Winterhude mit dem Vorverkauf zufrieden.
Beim Theaterbesuch können Heizkosten gespart werden
Alma Hoppe, Deutschlands dienstältestes Kabarettduo, bietet für sein Lustspielhaus nebenan in Eppendorf keine Rabatte, macht jedoch eine andere Rechnung auf: „Mit dem Kauf einer Eintrittskarte sparen Sie Ihre Heiz-, Strom- und sonstige Betriebskosten für ungefähr vier Stunden – wenn man An- und Abreise mitrechnet“, teilten Jan-Peter Petersen und Nils Loenicker in ihrem satirischen Monats-Newsletter mit.
Und: Je mehr Mitglieder eines Haushalts die Gäste mitbrächten, umso mehr spare man im ganzen Winter. Es gebe Karten, „solange die Stühle reichen“. Eine Tatsache, die für alle bestuhlten Häuser gilt. Eine Holz- und mögliche Stoffknappheit in der Krise hin oder her.