Hamburg. WDR-Intendant und ARD-Vorsitzender Tom Buhrow denkt im Hamburger Übersee-Club laut über die Zukunft der Rundfunkorchester nach.

Es gibt eindeutig nur einen Rudi Völler, aber neuerdings sogar zwei Tom Buhrows. Der eine ist seit 2013 WDR-Intendant und noch bis zum Jahresende ARD-Vorsitzender, und damit in großer Verantwortlichkeit auch für den Themenkomplex öffentlich-rechtlicher Kulturauftrag. Der andere sieht genauso aus.

Doch dieser Tom Buhrow hat in der letzten Woche im Hamburger Übersee-Club – als Privatperson, das war ihm sehr wichtig und ist in seinen Job natürlich völlig unmöglich – mit seiner Man-müsste-jetzt-aber-ganz-dringend-Rede über Reformnotwendigkeiten bei ARD und ZDF insbesondere den Themenkomplex der Kultur unterkomplex und populistisch zur Diskussion gestellt.

Kutltur im ÖRR: Im Sinne der Beitragszahlenden?

Seitdem steht zu befürchten, dass, wieder einmal, nun aber auch von ganz oben, die Jagdsaison eröffnet ist. Nicht nur, aber auch auf die Versorgung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) mit Kultur und auf ihre dort institutionalisierte Wertschätzung und Substanz.

Buhrows O-Ton zur Gretchenfrage „Wie hältst Du es mit Deinen Klangkörpern?“: „Die ARD unterhält 16 Ensembles: Orchester, Big Bands, Chöre. Etwa 2000 Menschen, fast alle fest angestellt. Obwohl die zu den Besten ihrer Zunft gehören – wir können auch hier der Frage nicht ausweichen: Wollen die Beitragszahler das? Wollen sie es in dieser Größenordnung? Oder wollen sie ein Best-of?

Das beste Sinfonieorchester, den besten Chor, die beste Big Band, das beste Funkhausorchester? Übrigens: RBB und Deutschlandfunk haben nach der Wiedervereinigung ein kluges Modell gewählt. Die Orchester wurden in eine Stiftung verlagert – mit Beteiligung von Land und Bund.“

Buhrows fraglicher Fusions-Gedanke

Das haben die Orchester nicht, es wurde eine GmbH organisiert, was aber nur ein harmloses Fehlerchen von Buhrows Zulieferern der offenbar minuziös geplanten Feierabend-Rede gewesen sein mag, während der Intendant Buhrow unbedingt viel größer, weiter, schneller sein wollte. Weil er absichtlich am Deckel der Büchse der Pandora herumschraubte, und dabei, plump auf Mitleid hoffend, von dieser verbohrt egoistischen „Kulturlobby“ orakelte, die gegen jeden Reform-, sprich: Kürzungsansatz sofort Sturm läuft wie blutrünstige Trump-Fans auf das Kapitol.

Buhrows Fusions-„Gedanke“ erinnert an die Idee des damaligen Hamburger Bürgermeisters Christoph Ahlhaus (CDU), der 2010 öffentlich und eher ahnungsarm darüber nachdachte, warum eigentlich das Thalia und das Schauspielhaus unbedingt jeweils einen eigenen Intendanten bräuchten und ob nicht auch ein Chef genügen würde. Ahlhaus‘ Amtszeit als Chef im Rathaus endete dann, auch aus anderen Gründen, sehr schnell.

Buhrow: Ein selbstinszenierter Kritiker

Auf die Idee, dass viele Gebührenzahler seit Jahren für ihr Geld mehr, anderes und besseres wollen als das lauwarme Prime-Time-Allerlei aus Krankenhaus-Serien, Topfschlagen mit PflaumeKernerHirschhausen, Kitschroman-Verfilmungen und Mittelklasse-Krimis, an jeder Milchkanne der Nation gedreht, mag der WDR-Intendant Buhrow womöglich selbst gekommen sein. Doch davon schweigt er lieber. Ebenso von den üppig finanzierten Sender-Wasserköpfen.

Und warum, übrigens, soll ein WDR-Intendant unbedingt deutlich mehr verdienen als die letzte RBB-Intendantin und viel mehr als der Bundeskanzler? Buhrow schweigt auch von den wild wuchernden Bürokratie-Strukturen und den Kosten für die Selbsterhaltung des Systems, das er beim WDR viele Jahre leitete.

Der so wacker selbstinszenierte Kritiker der Elche ist nach wie in deren Rudel ein Mitläufer. Dass die „Bild“-Zeitung Buhrows Orchester-Frage sofort ein zweites Mal stellte, verwundert nicht.

Mangelndes Rückgrat bei Buhrow und der ÖRR?

Zum Thema öffentlich-rechtliche Courage: Buhrow war es, der 2020 wegen eines Kinderchor-Sketchs über eine motorradfahrende Oma im Hühnerstall und Umweltsäue blitzartig vor dem Gegenwind einknickte, den andere Motorradfahrer produzierten. Und das ZDF schnitt geradezu devot eine Äußerung des Rappers Danger Dan aus der „Opus Klassik“-Show heraus, der AfD-Wählerinnen und -Wähler noch nicht mal mittelhart anging. Rückgrat, gern als ÖRR-Zentraltugend bemüht, als Deckung für die Kunstfreiheit ginge deutlich anders.

Buhrow ging aber noch weiter, mit der nächsten grobrhetorischen Fragestellung: „Hört sich Beethoven in Heidelberg anders an als in Halle oder Hamburg? Nein? Brauchen wir dann in der ARD mehrere Radios für klassische Musik?“ So gesehen, könnten landauf, landab die Kulturpolitik alle Museen schnittig optimieren. Denn kennt man ein Stillleben, kennt man doch alle. Warum braucht es noch mehr als ein olles Fürstenporträt, mehr als eine unhandliche Madonnenfigur? Wer unbedingt einen Caspar David Friedrich sehen möchte, kann sich ja dorthin bemühen, wo das eine Bild hängt.

Nur 36 Cent der GEZ-Gebühr für Klangkörper

Durch die Buhrow-Methode hätten auch die Büchereien – garantiert zur Freude der Bildungspolitik – demnächst viel Stauraum frei. Man behält einfach nur die „Buddenbrooks“ von Thomas Mann im Sortiment. Seine anderen Bücher, ohnehin zu lang, landen bei eBay. Dass das Wesen der Kultur aus der Selbstbefragung besteht, ist offenbar nicht bis zum Hobby-Sängers Buhrow in die WDR-Intendanz-Etage vorgedrungen.

Und selbst wenn es demnächst nur noch ein einziges Best-of-ÖRR-Orchester gäbe – wie sollte das, allein auf weiter Flur, die gesamte Kulturnation Deutschland und über 83 Millionen Menschen mit Musik versorgen, in der Fläche ebenso wie in den Metropolen? Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, erinnerte kürzlich (pikanterweise in einem WDR-Interview) daran, dass von den 18,36 Euro der GEZ-Monatsgebühr ganze 36 Cent für die Sender-Klangkörper verrechnet werden, „sie sind also weder das Problem noch die Lösung.“

Deutscher Musikrat äußert sich empört

Auch der Deutsche Musikrat, ebenfalls Teil der bedauerlichen „Kulturlobby“, schäumt, halbwegs freundlich formuliert, zurück: „Kultur gehört zur DNA des ÖRR und ist wesentlicher Bestandteil des Programmauftrags. Hierüber diskutieren zu wollen, stellt keinen mutigen ‚Tabubruch‘ dar, sondern öffnet die Schleusen für einen weiteren Verfall des Selbstverständnisses, aber auch der Akzeptanz des ÖRR.“ Der Landesmusikrat NRW wirft Buhrow seinen Populismus vor: Die Sender könnten Orchester, „selbst wenn sie es wollten, auch nicht komplett streichen, denn aufgrund der Alters- und Vertragsstrukturen würde es Jahrzehnte dauern, bis es Einsparungen gäbe.“ Das wisse auch der WDR-Intendant.

Das missliche Problem beim doppelten Buhrow: Bloß weil der von sich selbst zur Privatperson umetikettierte ÖRR-Intendant falsche Argumente hervorholt und blauäugig rezitiert, heißt das das nicht, dass Kritik am Status quo der Rundfunk-Ensembles grundsätzlich unberechtigt ist. Oder dass es keinerlei Reformbedarf gibt.

Musikzentren: Ähnliches Programm und gewollte Konkurrenz

Die ÖRR-Orchester wurden nach dem Zweiten Weltkrieg unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen gegründet. Sie sollten losgelöst vom Zwang zum Kommerziellen Kultur auf höchstem Niveau produzieren, das Programm mit Aufnahmen füllen, die Nischen pflegen, die jeweiligen Sendegebiete buchstäblich wie sprichwörtlich bespielen. Den zentralen Kultur- und Bildungsauftrag erfüllen, ebenso wie andere Senderabteilungen ihren Informationsauftrag.

Die Sender-Studios, insbesondere beim NDR und WDR, waren durch Kompositionsaufträge und Konzerte überlebenswichtige Brutkästen für die Nachkriegs-Avantgarde, die nach dem Zweiten Weltkrieg frische Ideen ins Musikleben der jungen Republik brachte und mitfinanzierte.

Die Gegenwart aber ist inzwischen eine andere: In den Musikzentren Deutschlands – München, Hamburg, Berlin, Leipzig, Köln – sind die Profis vom BR, NDR, MDR oder WDR ebenso zum big player geworden wie die staatlich finanzierten Klangkörper und die Einkäufe der privaten Veranstalter auf dem Klassik-Markt. Programm-Profile ähneln sich, diese Konkurrenz ist gewollt und nicht per se nur schlecht.

ÖRR: Gebührefinanzierte Ideenarmut?

Das Spezielle jedoch bieten inzwischen mehr und mehr Spezial-Ensembles für Alte wie Neue Musik, mit oft krimineller Selbstausbeutung hart und leidenschaftlich erarbeitet. Es gibt eine Unwucht in der Kultur- und Musiknation Deutschland, und sie nimmt zu statt ab.

In der Hamburger Elbphilharmonie spielen die Philharmoniker mit Chefdirigent Nagano gerade die eine oder andere Mahler-Sinfonie – die anderen bietet, früher oder später, das NDR Elbphilharmonie Orchester, das dort, vertraglich abgesichert, eine erste Geige spielt. Alle engagieren die gleichen Stars und die gleichen Dirigenten, einzig die Kartenpreise unterscheiden sich.

Das alles kann man als honorige Absicht und konzertierten Kundendienst auslegen – aber ebenso als Ergebnis einer gebührenfinanzierten Ideenarmut, anstatt Dinge in einem geschützten Angebots-Raum anders zu machen, ohne sofort eine Quote und ihre Konsequenzen zu fürchten.

Eine Kultur­auftrag-Visitenkarte des NDR: das NDR Elbphilharmonie Orchester, Residenzorchester der Elbphilharmonie, vor Ort.
Eine Kultur­auftrag-Visitenkarte des NDR: das NDR Elbphilharmonie Orchester, Residenzorchester der Elbphilharmonie, vor Ort. © NDR/Peter Hundert

Wandel und Umdenken in Klassikbranche eher schleppend

Das BR-Orchester (das sich einen Weltstar wie Sir Simon Rattle als nächsten Chef leistet, um international mitzuhalten) kommt immer gern in die Elbphilharmonie. Erst recht, seit Bayerns CSU-Ministerpräsident Söder die jahrzehntelangen Hoffnungen auf einen eigenen Münchner Konzertsaal praktisch beerdigt hat. Tourneen ins Ausland sind für alle ÖRR-Orchester Prestige-Projekte.

Noch heute unvergessen, dass man in Japan bei NDR-Konzerten mit der Dirigenten-Legende Günter Wand wie Rockstars gefeiert wurde. Das Tingeln durch beschauliche Sendegebiete? Wahrscheinlich deutlich weniger glamourös. Wandel und Umdenken sind in der Klassik-Branche nach wie vor überfällig, zunächst verschärft durch Corona und jetzt durch die kriegs- und krisengebeutelte Wirtschaftslage und nicht nur bei Sendeanstalten.

Rundfunkorchester: Nur noch ein Kostenfaktor?

Auch die ÖRR-Ensembles stehen unter hartem Rechtfertigungs- und Optimierungsdruck – wie jede der vielen Kulturwellen, die landauf, landab abgeknipst oder verflacht wurden, um nur ja niemanden mit Qualität zu fordern. Und weil das Ergebnis, nicht komplett überraschend, immer weniger Profil hatte und Reichweite lieferte, folgte schon bald die nächste Spar-Runde, die sich mühelos mit mangelnder Relevanz begründen ließ.

Auch Rundfunkorchester werden inzwischen behandelt, als seien sie nichts Besonderes mehr. Kein Markenkern, auf den man stolz sein will und kann. Keine Stärke, sondern eine Belastung. Nur noch ein streichfähiger Kostenfaktor unter vielen. Und beide Tom Buhrows haben gerade – vielleicht nicht grundlos, auf jeden Fall aber planlos – einen großen Rotstift neu angespitzt und der Gegenseite zur Nutzung auf eigene Rechnung angeboten.