Hamburg. Eine Diskussion in der Körber-Stiftung in Hamburg behandelte das Thema „Wenn Kultur zur Zielscheibe wird“.

Bei den nationalsozialistischen Pogromen am 9. November 1938 wurde der Münchner Kunsthändler Hugo Helbing schwer zusammengeschlagen, drei Wochen später erlag er seinen Verletzungen. Helbings wirtschaftliche Aktivitäten wurden daraufhin arisiert, die in seinem Besitz befindlichen Kunstwerke an das NS-Regime übertragen. An diesem Montag, einen Tag vor dem 84. Jahrestag der Pogrome, diskutierte Helbings Großneffe Johannes Nathan in der Körber-Stiftung zum Thema „Raub und Zerstörung. Wenn Kultur zur Zielscheibe wird“.

Allerdings ging es Nathan, der als Kunsthändler in die Fußstapfen seines Großonkels getreten ist, gar nicht in erster Linie um die Barbarei der Nationalsozialisten. Sondern um die Angriffe auf Kunstinstitutionen im aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Mehr als 450 Kulturerbestätten habe Russland im Nachbarland zerstört, meldete jüngst die „taz“, darunter das Theater in Mariupol sowie das Gregorius-Skoworoda-Literaturmuseum bei Charkiv.

Weshalb neben Nathan und der Provenienzforscherin Kathrin Kleibl vom Deutschen Schifffahrtsmuseum Bremerhaven vor allem Olena Balun auf Interesse stieß, eine aus der Ukraine stammende und heute in Bayern lebende Kunsthistorikerin, die sich beim Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine engagiert.

Man muss Kunstschätze aus dem Kriegsgebiet holen. Aber wohin?

Balun beschrieb einerseits ganz konkret ihre Versuche, Kulturgüter aus dem Kriegsgeschehen zu retten: Verpackungsmaterial muss in die umkämpften Regionen gebracht werden. Bestände müssen katalogisiert werden. Man muss Kunstschätze aus dem Kriegsgebiet holen. Aber wohin? Potenziell bleibt Kunst in der gesamten Ukraine gefährdet, aber naturgemäß gibt es eine Scheu, sie ins Ausland zu retten, weil dort die Gefahr besteht, dass sich ihre Spuren verlieren.

Hier konnte auch die Provenienzforscherin Kleibl ihre Erfahrungen mit geraubter Kunst einbringen: Je verschlungener die Pfade von Kunst sind, desto größer die Gefahr, dass sich ursprüngliche Besitzverhältnisse nicht rekonstruieren lassen. Gleichzeitig besteht aber auch eine Pflicht zur Geheimhaltung: Wenn man die Spuren der Werke zu nachvollziehbar anlegt, können diese den Angreifern in die Hände fallen. Kleibl, die längere Zeit in Konfliktregionen tätig war, ist sich dieser Problematik bewusst: In Zypern etwa habe sie keinen Zugang zum Nordteil der Insel gehabt, allerdings sei ihr aufgefallen, dass nach und nach immer mehr Kunstschätze aus dem Norden auf dem internationalen Kunstmarkt aufgetaucht seien.

Angriffe auf Kunst und Kultur sind zentrale Strategie

„Wir kennen die Mechanismen“, beschrieb Kleibl den Komplex. Und lenkte den Blick damit auf einen weiteren Aspekt, der jenseits der von Balun skizzierten praktischen Probleme bei der Kunstrettung liegt: Die Angriffe auf Kunst und Kultur passieren nicht nebenbei im Krieg, sie sind zentrale Strategie, von den Nationalsozialisten wie von der russischen Armee. Balun erklärte dieses Kriegsziel der Zerstörung von ukrainischer Kunst und Kultur und damit auch von ukrainischer Identität aus der Geschichte heraus: Schon Stalin habe das ukrainische Selbstverständnis als Nation angegriffen, und zwar indem er in einer ersten Welle ukrainische Künstler und Intellektuelle verfolgt habe, um in einer zweiten Welle die ukrainisch-orthodoxe Kirche anzugreifen.

Vergleichbare Aktionen unternehme die russische Armee aktuell auch. Die dritte Welle stalinistischer Repressionen gegen die Ukraine sei dann die ganz konkrete Vernichtung der Bevölkerung gewesen: Ab 1931 kam der „Holodomor“ über die Ukraine, eine geplante Hungersnot, der zwischen drei und sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Widerstand gegen russische Versuche, ukrainische Kunst zu vereinnahmen

Allerdings hätten diese Angriffe auch eine integrierende Wirkung. Aus dem Publikum kam die Frage, wie wichtig den Ukrai­nern eigentlich Kunst und Kultur seien, und Balun berichtete, dass sie in einer multikulturellen Umgebung aufgewachsen sei, in der wie selbstverständlich Russisch, Ukrainisch oder Sprachvermischungen gesprochen worden seien. Erst durch die Angriffe Russlands sei das Ukrainische wieder wichtiger geworden. Ebenso der Widerstand gegen die russischen Versuche, ukrainische Kunst für sich zu reklamieren, etwa den polnisch-ukrainisch-russischen Maler Kasimir Male­witsch, geboren 1879 in Kiew, der unter Putin als Russe gilt.

Nathan, der als Kunsthändler auch den Markt vertritt, beklagte, dass Provenienzforschung immer mit Krieg und Zerstörung assoziiert werde, der Kunstmarkt aber doch auch ein wertschätzender Umgang mit Kultur sei. „Da reden wir aber von Friedenszeiten!“, fing die NDR-Kulturjournalistin Christine Gerberding die Diskussion mit ihrer so sensiblen wie durchsetzungsstarken Gesprächsführung wieder ein. Wenn angesichts der Kriegsverbrechen auch die Rolle des Kunsthandels hinterfragt werde, könne man das nicht mit einem funktionierenden Markt auf Augenhöhe vergleichen.