Hamburg. Memorial-Gründerin und Friedensnobelpreisträgerin besucht Hamburg: Für Ihre Heimat Russland sei der Krieg „eine nationale Katastrophe“.

Der Friedensnobelpreis geht in diesem Jahr an gleich drei Organisationen – eine davon ist die russische Nichtregierungsorganisation Memorial. Sie wurde bereits 1989 gegründet und hat sich der Aufarbeitung des Stalinismus, den Menschenrechten und der Unterstützung der Opfer der Gewaltherrschaft verschrieben. Der russische Staat ging in den vergangenen Jahren immer härter gegen Memorial vor – inzwischen wurde die Organisation in Russland vom Obersten Gerichtshof liquidiert und enteignet.

Eine der Gründerin, die Germanistin, Historikerin und Publizistin Irina Scherbakowa, musste ihre Moskauer Heimat verlassen und lebt nun in Deutschland. Am Mittwochabend ist sie zu Gast in der Körber-Stiftung, die schon seit Jahren gemeinsame Projekte mit Memorial organisiert. Am 4. Dezember wird Scherbakowa erneut in Hamburg sein und mit dem Marion-Dönhoff-Preis für internationale Verständigung und Versöhnung ausgezeichnet. Im Schauspielhaus wird dann Bundeskanzler Olaf Scholz die Laudatio halten.

Sie leben inzwischen im Exil – haben Sie Hoffnung, bald nach Russland zurückkehren zu können?

Irina Scherbakowa: Nein, diese Hoffnung habe ich nicht mehr. Das wird dauern. Die Zukunft für meine Heimat ist sehr dunkel.

Hat die Zuerkennung des Friedensnobelpreises Ihr Leben verändert?

Irina Scherbakowa: Nein, mein Leben nicht. Aber für Memorial ist es die höchstmögliche Anerkennung – und eine große Herausforderung zugleich. In dem Moment, als die Nachricht aus Oslo kam, saßen meine Kollegen gerade im Gerichtssaal: Inzwischen hat uns der Staat enteignet, unsere Räume, unser Sitz in Moskau, der für viele unsere Gleichgesinnten ein wichtiger Treffpunkt war, sind uns weggenommen worden.

Kann Memorial denn überhaupt noch in Russland arbeiten?

Irina Scherbakowa: Es sind noch einige Mitstreiter aus unserem Netzwerk in Russland, die versuchen, ihre Arbeit fortzusetzen. Aber es wird immer schwieriger, wir haben ganz andere Bedingungen als noch vor fünf Jahren. Trotzdem versuchen wir, weiterzumachen. Unser wichtigstes Projekt, die Namen von Opfern des kommunistischen Terrors am 29. Oktober am Lubjanka-Platz in Moskau zu verlesen, wird nicht mehr zugelassen, an verschiedenen Orten Russlands wird es immer schwieriger.

Memorial steht exemplarisch für den demokratischen Aufbruch und nun den demokratischen Zusammenbruch in Russland – gegründet in den Jahren von Glasnost, zuletzt der Verfolgung ausgesetzt. Wann haben sie gespürt, dass Ihr Land zurückfällt in alte autoritäre Strukturen?

Irina Scherbakowa: Wir haben sehr früh gespürt, dass der Wind sich dreht. Themen wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte spielten immer weniger eine Rolle. Stattdessen wurden Nationalismus, Patriotismus und die alten Symbole wichtiger. Schon in den Neunzigerjahren bekam die Aufarbeitung des Stalinismus wenig Raum, damals wollten die Menschen lieber über die Schwierigkeiten des Alltags und des Übergangs zur Marktwirtschaft reden. Seit 2012 nimmt die Repression und Druck vom Staat immer weiter zu.

Wie denkt die Mehrheit der Russen?

Irina Scherbakowa: Es war immer eine Minderheit der Be­völkerung, vielleicht 15 Prozent, die uns unterstützt hat. Der Stalinismus ist bis heute die stärkste nationale Erzählung, hier zeigt sich, wie man es mit der Geschichte hält. Viele Russen sehen Stalin als Gewinner des Zweiten Weltkriegs positiv.

Sie wollen die Geschichte vor dem Vergessen gerettet sehen. Ist das Ihr „Verbrechen“, in den Augen der Macht, weil es die große vaterländische Heldensaga entzaubert?

Irina Scherbakowa: Genau das wirft man uns vor: Wir haben den Sowjetstaat als ein Terrorstaat angeblich diffamiert und versucht die Jugend in diesem „unpatriotischen“ Sinne zu be­einflussen – vor allem durch den größten Schülerwettbewerb Europas, den wir dank der Unterstützung der Körber-Stiftung 2000 gestartet und seit 22 Jahren durchgeführt haben. Man hält uns vor, die Jugend verdorben zu haben.

Haben Sie sich eigentlich auch in Putin getäuscht?

Irina Scherbakowa: Ich weiß nicht, ob Täuschung das richtige Wort ist. Wir hatten von Anfang an keine Illusionen, anders als manche deutsche Politiker. Spätestens seit 2014 hätte man gewarnt sein müssen. Nach der Annexion der Krim war klar, dass Putin ein eiskalter Machtpolitiker ist. Menschen ändern sich nicht: Putin war immer ein Mann der Geheimdienste und mir von Anfang an suspekt. Meine Hoffnung war, dass die Menschen ihn durchschauen. Aber die Mehrzahl hat es anders gesehen.

Auch viele Deutsche. 2001 hielt Putin eine Rede vor dem Bundestag, die viele tief beeindruckt hat.

Irina Scherbakowa: Vielleicht wollten die Deutschen sich täuschen lassen, viele haben sich auch aus wirtschaftlichem Interesse auf seine Seite geschlagen. Heute wissen wir: Das hat Putin den Weg gebahnt. Er glaubte bis zuletzt, dass der Westen auch den Überfall auf die Ukraine hinnehmen wird. Wir hatten immer gewarnt, dass Europa erpressbar ist, vor allem in der Energieabhängigkeit.

2016 besuchte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier Memorial. Er hielt lange Russland die Treue.

Irina Scherbakowa: Er war ein offenes Gespräch und ein guter Besuch vor allem in der Anerkennung unserer historischen und menschenrechtlichen Tätigkeit. Trotzdem glaube ich, dass auch Steinmeier noch lange Illusionen hatte, was die Gefahr durch Putins Politik betrifft. Deutschland zahlt nun einen hohen Preis und muss realistisch werden –mit Diplomatie kann man bei Putin nichts erreichen.

Sind Sie als Russin für Waffenlieferungen an die Ukraine?

Irina Scherbakowa: Ja, ich sehe keine Alternative dazu. Man muss es machen. Es ist ein Angriffskrieg und nach den Kriegsverbrechen und dem Krieg gegen die Zivilbevölkerung gibt es keine anderer Wahl. Sonst liefern wir die Ukraine Putin aus.

„Wenn die Ukraine verliert, verliert die gesamte Menschheit“


  • USA fordern Kiew zu Verhandlungsbereitschaft mit Moskau auf

  • Warum Russland 30 Luxuspferde an Nordkorea per Zug schickt

  • Wann und wie ist Frieden möglich?

    Irina Scherbakowa: Ich bin keine Militärexpertin. Ich fürchte, der Krieg wird noch Monate dauern und weiter sehr blutig sein. Ich hoffe, dass man durch die Unterstützung für die Ukraine Russland zu Verhandlungen zwingen kann, aber das soll die Entscheidung der Ukraine sein. Für Russland ist der Krieg schon jetzt eine nationale Katastrophe in jeder Hinsicht. Viele Menschen haben das Land verlassen, viele sind depressiv geworden. Es gibt Anzeichen, dass die Stimmung kippt und immer weniger Menschen den Krieg unterstützen. Das bedeutet aber nicht, dass diese Stimmung sich nun gegen Putin richtet. Die Mehrheit ist noch für ihn. Ich bin überzeugt, das wird sich trotz aller Repression ändern. Nur wann das sein wird, wissen wir nicht.

    Kann es Frieden mit Putin geben?

    Irina Scherbakowa: Eine Zukunft mit Putin mag ich mir nicht vorstellen – mit ihm wird es keine Demokratie und Freiheit geben und natürlich keinen Frieden. Es gibt gefährliche Szenarien, wonach eine Niederlage das Land ins Chaos stürzen könnte. Aber das Chaos sehen wir in Russland eigentlich schon – wenn wir mitbekommen, wie zum Beispiel die Mobilisierung verläuft. Zur Vorkriegssituation können wir auf keinen Fall zurück: Was in der Vergangenheit funktionierte, wird heute nicht mehr funktionieren.

    Irina Scherbakowa zu Gast im Körber Forum, Mi 9.11., 19 Uhr. Für die Veranstaltung gibt es 20 Plätze exklusiv für Leser des Abendblatts. Bitte melden Sie sich per E-Mail direkt bei hartz@koerber-stiftung.de. Die Anmeldungen werden in der Reihenfolge des Eingangs berücksichtigt.