Hamburg. Neue Musik in der Elbphilharmonie: Das Publikum wurde gefordert beim Konzert zum 70. Geburtstag des Komponisten Wolfgang Rihm.

Nach den ersten zehn Minuten setzt in den oberen Rängen des Großen Saals ein stiller, aber sichtbarer Exodus an. Menschen schleichen sich davon, ein Paar hält sich an den Händen, als hätten die beiden eine Prüfung zu bestehen. Ungesehen entkommt halt niemand aus der Elbphilharmonie.

Es lässt sich nicht bestreiten: Das Konzert, das die HamburgMusik dem Komponisten Wolfgang Rihm zu seinem 70. Geburtstag ausrichtet, verlangt allen Anwesenden einiges ab. Sowieso dem fabelhaften Ensemble Modern auf der Bühne, aber eben auch den Zuhörern. Eine ganze Stunde Concerto „Seraphin“, da können einem auf der Strecke schon einmal Zweifel kommen, ob man sie durchhalten wird. Denn auf Rihms Musik muss man sich einlassen; zurücklehnen und Melodien genießen funktioniert hier eindeutig nicht.

Eine anspruchvolles Konzert

Zu erleben gibt es stattdessen Klanglichkeit und Energie pur. Was die ungewöhnliche Besetzung verspricht — darunter einzeln besetzte Streicher, reiches Schlagwerk, zwei Klaviere, zwei Hörner, ein paar versprengte Bläser —, löst Rihm in einer überwältigenden Vielfalt von Klangfarben ein.

Etwa wenn die Bassflöte mit Tamtam und Kontrabass zusammenklingt und die Harfenistin ihre tiefen Saiten dazu mit einem Stück Kunststoff traktiert. Oder wenn sich Geige und Oboe in höchste Höhen schrauben und die Posaune das mit Glissandi kommentiert.

Dirigent Enno Poppe steht lässig da wie ein Bandleader

Niemand wäre zur Interpretation dieser Musik berufener als die Frankfurter Elite-Combo. Kein noch so raffinierter Rhythmus kann die Musiker aus der Fassung bringen. Wie die beiden Pianisten über viele Meter hinweg zusammenspielen, als wären sie nur einer, das grenzt an Hexerei. Und der schlaksige Enno Poppe steht lässig davor wie ein Bandleader und schüttelt die Einsätze gleichsam aus dem Handgelenk.

Irgendwann im Laufe dieser Stunde „Seraphin“ gibt der Verstand auf, das musikalische Geschehen kognitiv begreifen und einordnen zu wollen. Das ist der Moment, in dem sich Freude einstellt darüber, wie sich Soli und Tutti abwechseln, wie engagiert sie einander die Bälle zuspielen, wie viel Witz auch in Rihms Tonsprache liegt. Der Moment, in dem sich angestrengtes Zuhören in Trance verwandelt.

Fauchen und schreien in der Elbphilharmonie

Sinnlicher und einigermaßen erschütternd sind die „Abschiedsstücke für Frauenstimme und kleines Orchester“ aus dem Jahr 1993 zu Beginn des Abends. Rihm hat Gedichte von Wolf Wondratschek vertont, die von Leichenschändung bis zur Absonderung von Körpersäften nichts auslassen.

Die Sopranistin Keren Motseri formt diese Gesänge zu physischen Erlebnissen, sie zerlegt die Worte in Silben, die Silben in Buchstaben und die Buchstaben in Geräusch, sie faucht, schreit, spricht, flüstert, aber sie singt auch sehr melodiös und beweglich. All das ist hochvirtuos und berührt einen zugleich im Innersten. Herzzerreißend nach all den menschlichen Abscheulichkeiten Wondratscheks Vers: „Dein Flugzeug ist schon jetzt kleiner als ein weggeworfenes Streichholz.“ Gibt es eine passendere Metapher für Abschied?