Hamburg. Beim Comeback-Konzert in der Barclays Arena lärmte die Institution ohne Rücksicht auf Verluste. Warum Handynutzer enttäuscht wurden.

Man muss sagen, dass Placebo den derzeit besten Konzertrausschmeißer im Programm haben. Kate Bushs „Running Up That Hill“ ist die „Strangers Things“-gepimpte Retterhymne im Kinoformat. Placebo haben ihre Coverversion des Klassikers schon vor bald 20 Jahren aufgenommen und live auch regelmäßig gespielt. Selten traf der Song jedoch den Nerv einer Gegenwart besser, weil Superheldinnen so dringend gebraucht werden wie nie, und Musik, siehe Netflix, eine Superpower ist.

Konzertkritik: Molko macht Johnny-Depp-Phase durch

„Running Up That Hill“ beschloss auf zufriedenstellende Weise in der mit knapp 11.000 Fans gefüllten Barclays Arena ein Comeback-Konzert der englischen Indierockband, deren Songs immer denen am besten gefallen haben, die schneidende Vocals und Industrial-Power-Pop für sättigende Seelennahrung halten. Einer der ersten Placebo-Hits, vor einem Vierteljahrhundert!, hieß „Teenage Angst“. Placebo-Chef Brian Molko sang darin die folgenden Zeilen: „Since I was born I started to decay/Now nothing ever, ever goes my way”.

Dafür, dass er früh im Verfall begriffen war, sieht Molko noch ganz gut aus. In der Neuversion seiner androgynen Selbstinszenierung – tatsächlich war Molko, was das Gender-Ding angeht, in den Neunzigern weit vorn – macht der bald 50-Jährige äußerlich derzeit anscheinend seine Johnny-Depp-Phase durch. Das geht in Ordnung so. Die Frage ist, ob das insgesamt auch für die Setlist der aktuellen Tour gilt.

Als Placebo im März ihr neues Album „Never Let Me Go“ veröffentlichten, war das eine Wiedergeburt nach fast einem Jahrzehnt ohne neue Songs. Als Duo – neben Molko ist Bassist Stefan Olsdal das einzig verbliebene Mitglied nach dem Fortgang von Drummer Steve Forrest. In Hamburg spielte die live zu sechst auftretende Band beinah komplett das neue Album.

Placebo verzichtete auf Gassenhauer in der Barclays Arena

Kann man machen, Neubesetzung und so, neue Ära. Und man muss es sogar machen, wenn man vorhat, einfach die zweitklassigen Stücke im Repertoire zu spielen. Die C-Ware. Das, was vom Indierock übrig blieb. Okay, klingt polemisch. Aber der auffällige Verzicht auf scheinmedikamentöse Gassenhauer wie „Every You, Every Me“ (was für ein vergleichsweise filigraner Song!) und „Nancy Boy“ war dann doch auffällig.

Sorgte aber andererseits dafür, dass sich die Band der eisigen Kühle ihres aktuellen Albums mit Hingabe widmen konnte. „Forever Chemicals“ und „Hugz“ sind lärmende Sendboten aus der Düsterkammer des Humanen. Aber wo ist die Dynamik hin? Klangen die früher nicht, nun ja, abwechslungsreicher?

Vielleicht lag’s an einem selbst, dass man sich vom Konzertauftakt über die Maßen gestresst fühlte. Andererseits war Placebo das ja schon immer, ein Aufputschmittel, das durch die Blutbahnen fräst und dabei Körper und Geist in Aufregung versetzt.

Mit der Routine einer langen Karriere performte die Band ihre Setlist runter. Molko ist immer noch gut bei Stimme. Älteres („For What It’s Worth“, „The Bitter End“, „Slave to the Wage“) gab es auch, bestgelauntest begrüßt vom Publikum, das übrigens gleichermaßen Bowie- und ACDC-Shirts trug. Damit ist die Schnittmenge umrissen.

Placebo erteilte Verbot für Handyfilmer

Und es gibt auch gute Songs jenseits des Brettharten auf dem neuen Album: „Sad White Reggae”, „This Is What You Wanted”, „Went Missing”, „Fix Yourself”. Vom vorletzten Album spielten sie „Too Many Friends“, ein Lied gegen das Internet. Apropos: Handygefilme verbat die Band sich. Keine schlechte Idee, und weil das Publikum großteils aus den Smartphone-freien 90ern mitgealtert ist, hielt es sich an den Wunsch. Placebo 2022, das ist eh eine Nostalgieveranstaltung.

Schon mit viel Weltschmerz, einer Hamburger Überdosis gewissermaßen auch, The Cure waren doch gerade erst da. Wer jetzt mehr heilte, muss erstmal offen bleiben: Das Publikum in der Barclay’s Arena war jedenfalls angetan von der Schau, die Brian Molko und Co. ablieferten, und dass das Werk der früheren und mittleren Jahre zu kurz kam, war ein Empfinden, das sich irgendwann im Brachialrock verlor. Es wummerte ordentlich in den Eingeweiden, und Presslufthämmer klingen nach drei Bier wahrscheinlich eh fast lieblich.

Das Gebrettere war am Ende aber Schall und Rauch, die Synthie-basierten langsamen Nummern wirkten nach, als flächige, sphärische Walze. Spielt mal öfter langsamer, ihr alten Männer, wollte man Placebo zurufen. Aber das wäre natürlich Quatsch. Rock’n’Roll stirbt nie. Darauf eine Kopfschmerztablette.