Hamburg. Studie zeigt: Viele erleben diskriminierendes Verhalten aufgrund ihrer Mutterschaft. Wie eine Hamburger Sopranistin helfen will.

Sonnabendnachmittag bei Familie Mendrala, im Norden von Fuhlsbüttel. Nach dem Interview geht’s gleich nach nebenan, in die Küche. „Mama, wir müssen vier Kuchen backen!“, ruft Aurelia, die kleinere der beiden Töchter, die am nächsten Tag sieben Jahre alt wird. Mama lächelt, schmeißt die Rührmaschine an. Annika Sophie Mendrala genießt es, Chef­bäckerin und liebevolle Mutter zu sein. Diese Zuwendung nimmt viel Raum und Zeit ein.

Und zugleich hat Mendrala, verheiratet mit einem Journalisten, ein erfülltes Berufsleben – als gefragte Sopranistin auf der Opernbühne und im Konzert, aber auch als Lehrerin, Stimmbildnerin und Dozentin. „Dadurch, dass ich gleichzeitig unterrichte und das Vokalwerk Hamburg leite, mit Christopher Bender zusammen, dass ich Stimmbildung beim Chor St. Johannis in Harvestehude mache und noch einen Studiengang in Bern leite, habe ich sehr viel zu tun“, sagt die charismatische Enddreißigerin bei einer Tasse Tee. „Ich arbeite nicht in Teilzeit!“

„Bühnenmütter“: Intendant verlängerte Sopranistin nicht

Mendrala ist gut im Geschäft: durch ihr musikalisches Können, durch eine unglaubliche Disziplin und Professionalität. Allerdings reicht selbst das manchmal nicht aus – diese Erfahrung hat sie gleich im ersten Festengagement an der Oper gemacht, damals noch im deutschen Südwesten. Als sie 27 ist, wird Mendrala schwanger. Der neue Intendant verspricht zunächst, dass alle Ensemblemitglieder bleiben können.

„Dann hat er aber doch die Nichtverlängerung ausgesprochen.“, erinnert sich die Sopranistin. „Ich hab dann auch gesagt, das sei okay. Weil ich nach Hamburg gehen musste. Aber später habe ich gedacht: Das ist schon krass, am Tag der Geburt jemandem zu sagen: Du wirst nicht verlängert.“

Die Frauen gründeten den Verein „Bühnenmütter“

Ein Vertragsende als Nachricht zur bevorstehenden Geburt. Auf so eine Idee muss man als Chef erst einmal kommen. Im Gespräch mit Verena Usemann, einer befreundeten Kollegin aus Berlin, die sie schon seit der gemeinsamen Zeit im Kinderchor der Staatsoper Hamburg kennt, stellt Annika Sophie Mendrala fest: Sie ist nicht die Einzige, die solche Erfahrungen macht. „Wir haben gemerkt, dass wir an denselben Sachen hadern.“

Sie gründeten die „Bühnenmütter“:  Annika Sophie Mendrala (l.) und Verena Usemann. 
Sie gründeten die „Bühnenmütter“: Annika Sophie Mendrala (l.) und Verena Usemann.  © LENA KERN 

So ist die Idee entstanden, den Kreis zu erweitern. „Wir wollten Frauen zusammenbringen und ihnen dieselbe schöne Möglichkeit bieten: mitzubekommen, dass es andere gibt, die dasselbe erlebt haben.“ Um diesen Austausch zu ermöglichen, hat Annika Sophie Mendrala zusammen mit Verena Usemann zunächst eine Website und eine geschlossene Facebook-Gruppe eingerichtet. Die beiden haben Online- und Livekonferenzen organisiert und Mitte August schließlich einen Verein mit dem Namen „Bühnenmütter“ gegründet.

Betreuungsarbeit nicht automatisch Frauensache

Natürlich sei die Betreuungsarbeit nicht automatisch Frauensache, betont Mendrala, sondern eine Aufgabe, die alle Elternteile gleichermaßen betreffe. Trotzdem wolle sich der Verein zunächst auf Belange der Frauen konzentrieren, „weil es im Moment in der Realität eben immer noch so aussieht, dass die Frauen deutlich mehr Care-Arbeit leisten. Und weil sie weniger Geld verdienen als Männer; in der Kulturbranche ist der Gender-Pay-Gap überdurchschnittlich hoch. Außerdem gibt es eine körperliche Dimension bei der Mutterschaft, die man nicht vergessen darf.“

Frauen eine Stimme geben – das Ziel der „Bühnenmütter“.
Frauen eine Stimme geben – das Ziel der „Bühnenmütter“. © Lena Kern

Welche Rolle diese Belange für Bühnenmütter spielen, hat Annika Sophie Mendrala in einer Pilotstudie ermittelt – einer qualitativen Untersuchung, die nach den besonderen „Belastungen, Bedürfnissen und Herausforderungen von Bühnenkünstlerinnen mit Kindern“ fragt. In der Zeit zwischen Mai und Dezember 2021 haben mehr als 120 Frauen daran teilgenommen, im Alter von 26 bis 64 Jahren und mit einer breiten Streuung der Berufsgruppen, von Sängerinnen und Musicaldarstellerinnen über Regisseurinnen, Dramaturginnen und Bühnenbildnerinnen bis zu Schauspielerinnen.

Viele erleben diskriminierendes Verhalten

Die Resultate haben Mendrala und Usemann in monatelanger Arbeit aufbereitet und in einem 86 Seiten umfassenden Dokument zusammengefasst, das jetzt auch auf der Website buehnenmuetter.com nachzulesen ist. Repräsentativ sei die Studie zwar nicht, räumt Mendrala ein, und auch nicht im wissenschaftlichen Sinne unabhängig, weil sie selbst daran beteiligt war, aber dennoch aussagekräftig. „Es ist eine erste Datenerhebung mit sehr wichtigen und auch erschreckenden Zahlen.“

Annika Sophie Mendrala backstage mit Tochter vor einer „Parsifal“-Aufführung  bei den Osterfestspielen Salzburg.
Annika Sophie Mendrala backstage mit Tochter vor einer „Parsifal“-Aufführung bei den Osterfestspielen Salzburg. © Privat

So geben 45 Prozent der Teilnehmerinnen an, diskriminierendes Verhalten aufgrund ihrer Schwangerschaft bzw. Mutterschaft erlebt zu haben, 25 Prozent berichten, dass ein Vertrag deshalb aufgelöst wurde oder sie aus einer Produktion ausgeschlossen wurden. 44 Prozent verdienen weniger, seit sie Mutter sind. Neben diesen allgemeinen Punkten hat die Studie auch nach konkreten Erlebnissen gefragt. Und auch die sind bezeichnend – wie das Beispiel einer schwangeren Bühnenbildnerin zeigt.

Studie zeigt extreme Fälle auf

Sie sollte acht Tage nach dem für sie errechneten Geburts­termin ihre Entwürfe präsentieren. „Sie hat natürlich darum gebeten, diesen Termin zu verschieben. Oder angeboten, die Entwürfe zu schicken, die man dann per Video hätte besprechen können. Das wurde abgelehnt, und ihr wurde mit Vertragsstrafe gedroht. Sie musste dann mit einem zehn Tage alten Säugling – eigentlich im Wochenbett noch! – acht Stunden anreisen, um 30 Minuten die Bühnenbilder vorzustellen.“

Das wirkt fast schon wie absichtliche Schikane und nicht mehr „nur“ kaltherzig. Dieser Fall gehört zu den Extrembeispielen der Studie, die ein differenziertes Bild zeichnet und auch die positiven Erfahrungen benennt – etwa von der Staatsoper Hamburg, die eine Produktion wegen der Schwangerschaft einer beteiligten Künstlerin um zwei Jahre verschoben habe, wie eine Teilnehmerin der Studie schreibt.

„Nach der Geburt verlor ich fast alles"

Annika Sophie Mendrala als Mélisande in „Pelléas et  Mélisande“ am Theater Heidelberg.
Annika Sophie Mendrala als Mélisande in „Pelléas et Mélisande“ am Theater Heidelberg. © Annemone Taake

Aber das ändert nichts am Gesamteindruck, dass die befragten Bühnenmütter viel zu oft mit diskriminierendem, teils berufsschädigendem Verhalten konfrontiert sind – und immer wieder dämlichen Vorurteilen begegnen. „Ja, vor meiner Mutterschaft war ich cool und kreativ, arbeitete als künstlerische Leitung, kreierte und inszenierte Bühnenstücke“, heißt es in einem der anonymisierten Erfahrungs­berichte. „Nach der Geburt verlor ich fast alles. Ich wurde mit ,Na? Mudder?‘ begrüßt, und mir wurde jegliche künstle-
rische Kompetenz abgesprochen.“

Die Annahme, eine Mutterschaft schade der künstlerischen Qualität, ist immer noch weit verbreitet. Dabei sei das Gegenteil der Fall, sagt Annika Sophie Mendrala: „Auch das ist ein wichtiges Ergebnis der Studie: Viele Frauen empfinden sich als reifer und interessanter, wenn sie Mutter geworden sind, und denken, dass sie mehr zu erzählen haben.“

Studie zitiert auch Anregungen

Auch in der Elbphilharmonie trat Annika Sophie Mendrala auf.
Auch in der Elbphilharmonie trat Annika Sophie Mendrala auf. © Annika Sophie Mendrala

Ziel des Vereins ist es, den Bühnen­müttern eine lautere Stimme zu geben, alte Denkmuster aufzubrechen und natürlich die benannten Missstände zu beheben. Deshalb zitiert die Studie Anregungen ihrer Teilnehmerinnen („Tagespflege am Theater wäre der Knaller“) und formuliert konkrete Wünsche und Forderungen, etwa zur Lohngerechtigkeit und zu den Arbeitsstrukturen.

Ein zentrales Anliegen: dass die familienfeindliche Tradition der regelhaften Abend- und Wochenendproben hinterfragt wird. Und dass die Probenzeiten viel langfristiger geplant und bekannt gegeben werden als bisher üblich.

Arbeitsbedingungen am Theater oft schwierig

„Am Theater ist das so: Man bekommt den Probenplan für den Tag darauf erst um 14 Uhr. Das heißt, ich habe heute bis 14 Uhr keine Ahnung, ob ich morgen arbeite. Ich weiß nicht, ob ich einen Babysitter brauche oder wann ich mein Kind abholen kann von der Schule. Und das ist sehr anstrengend!“

Nicht bloß für die Mutter, sondern für die ganze Familie. Schließlich ist es wichtig zu wissen, wann man gemeinsam Zeit verbringen kann. Zum Beispiel beim Kuchenbacken für den Geburtstag der kleinen Tochter.