Hamburg. Ein außergwöhnliches ukrainisch-russisch-deutsches Theaterprojekt im Lichthof Theater in Hamburg. Die Premiere ist am Sonntag.

Manchmal führen die Schrecknisse der Welt zu einem Projekt der Hoffnung. Die Hamburger Theaterregisseurin Franziska Jakobi, 1990 in der Nähe von Leipzig geboren, spürte schon früh eine Verbundenheit mit dem Osten, besonders mit der Ukraine. Auf das Studium der Sozialarbeit folgten Regie-Assistenzen am damaligen Centraltheater, heute Schau-spiel Leipzig, und schließlich das Studium der Performance Studies und ein Zweitstudium Slavistik/Osteuropastudien in Hamburg.

2018 nahm sie an einem Austauschprojekt mit der ukrainischen Stadt Charkiw teil. Seit diesen Tagen kennt sie Nikita Petrosian und fünf weitere ukrainische Schauspieler und Theatermacher. „Aus dem Kennenlernen entstanden Freundschaften, und da haben wir uns entschieden, weiterzumachen, und gründeten das deutsch-ukrainische Netzwerk ‚Under Construction‘“, berichtet Franziska Jakobi.

Theater Hamburg: Kollektiv ist in Hamburg versammelt

Dann kam die Pandemie, die zu Stillstand führte und schließlich zu unzähligen digitalen Planungstreffen. Mit Ausbruch des Krieges überschlugen sich die Ereignisse. Wie eine Lawine sei das gewesen, erzählt Jakobi. Nun sind – wie durch ein Wunder – alle Mitglieder des Kollektivs in Hamburg versammelt. Seit dem Sommer wurde gemeinsam die Produktion „Sensitive Content – Modern War Novels“ erarbeitet. Am 9. Oktober ist Premiere im Lichthof Theater.

„Wir haben unsere Gedanken in Monologen aufgeschrieben. Sie handeln von dem Schmerz, den Gefühlen, die wir teilen wollen. Es ist alles schwer zu verstehen und zu verarbeiten“, sagt Nikita Petrosian. Auf die Bühne gelangen sowohl eigene als auch überlieferte und übermittelte Texte, etwa von Menschen, die ihre Erfahrungen aus dem Gefängnis teilen. „Das sind sehr extreme Texte aus dem Innern des Krieges“, so Petrosian.

Theater Hamburg: Der Krieg zeichnet die Arbeit des Kollektivs

Man kann sich vorstellen, dass das Kollektiv und dieses Projekt für ihn einerseits Arbeit ist, aber zugleich so viel mehr bedeutet. Nikita Petrosian wurde in Russland geboren, kam jedoch im Alter von fünf Jahren in die Ukraine. Er lebte in Krementschuk, studierte Schauspiel in Charkiw, eine Zeit lang zog es ihn nach St. Petersburg. Als der Krieg anfing, ging er Anfang März zunächst nach Koblenz zu einem Onkel.

Nach vier Monaten schrieb ihm ein Freund in Hamburg von einem Casting an der Staatsoper. Er fuhr hin, bekam den Job und fand mit Freunden zusammen eine Bleibe. „Das war der Schlüssel für alles. Was jetzt geschieht, ist zu 80 Prozent Zufall, und ich nehme es einfach an“, sagt er. Auch in Franziska Jakobis Leben zog der Krieg ein – ein gemeinsamer Freund aus der Gruppe nächtigt seit Monaten in ihrem Wohnzimmer.

Theater Hamburg: Projekt geprägt durch verschiedene Perspektiven

Neun Beteiligte hat das Projekt, von denen sieben auf der Bühne stehen, unter ihnen vier Ukrainerinnen, ein Russe, zwei Deutsch-Österreicher. „Es ist eine Art Collage, bei der wir unsere verschiedenen Themen zusammengefügt haben. Es gibt unterschiedliche Zugänge und Akzente, nicht nur eine Position“, so Jakobi. „Unsere Arbeitsweise verstehen wir als demokratisch. Alle sind beteiligt. Das ist manchmal herausfordernd, aber es ist ein aufregender Prozess, bei dem jede und jeder ihre und seine Art des Umgangs mit diesen Geschichten zeigen kann.“

Geschichten zu erzählen von und mit Schauspielerinnen und Schauspielern war schon immer Jakobis Ansatz bei der Entwicklung von Theater. Gleichzeitig kann sie ihre persönlich stark empfundene Verbundenheit mit der Ukraine damit zum Ausdruck bringen.

Theater Hamburg: Unterschiedliche Theaterauffassungen

„Heute verstehe ich besser, was es bedeutete, im postsozialistischen Raum aufzuwachsen. Die Erwachsenen um mich herum waren damals verloren. Ohne Halt“, erzählt sie. „Ich habe eine Zeit lang in Rumänien gelebt und dort auch viel über Hierarchien erfahren, über eine gewisse Überheblichkeit des Westens dem Osten gegenüber.“ Diese Erfahrungen haben sie darin befeuert, diese Länder auch historisch noch genauer und tiefer zu erforschen.

Auf der weitgehend leeren Lichthof-Bühne begegnen sich unterschiedliche Theaterauffassungen. Nikita Petrosian kommt eher aus der Stanislawski-Schule, dem psychologischen Theater. Franziska Jakobi hat einen eher performativen Zugang, der auch intensive Körperarbeit einschließt.

„Es gilt, im Moment zu leben, denn der Krieg ist nicht weit weg.“

„Die Inszenierung wird eher minimalistisch sein. Es gibt kein klassisches Theater im traditionellen Sinne. Wir wollen eher mit Text, Musik, Projektion und schnellen Schnitten eine Atmosphäre kreieren.“ Die Aufführung verzichtet auf explizite Gewaltdarstellungen, aber die Erzählungen, die zu hören sein werden, sind naturgemäß von Gewalt geprägt. Auch Sirenen- und Explosionsgeräusche kommen vor.

Die Produktion, möglich durch eine Förderung von Art Connects, einem Hilfsfonds für Projekte mit schutzsuchenden Kulturschaffenden, hat ein erklärtes Ziel: „Die Menschen sollen verstehen, sie können heute ein normales, cooles Leben haben – und schon morgen kann sich das abrupt ändern“, so Nikita Petrosian. „Es gilt, im Moment zu leben, denn der Krieg ist nicht weit weg.“

„Sensitive Content – Modern War Novels“ Premiere So 9.10., 19 Uhr, Lichthof Theater, Mendelssohnstr. 15, Karten unter T. 01806/70 07 33; www.lichthof-theater.de