Hamburg. Vom Alten Meister bis zur Videoinstallation – das Thema Luft holen ist allgegenwärtig und hoch spannend, zeigt eine große Ausstellung.

Mit dem ersten Atemzug beginnt das Leben, mit dem letzten geht es zu Ende. Dazwischen holen wir durchschnittlich eine halbe Milliarde Mal Luft. Unbewusst, ohne dass wir es steuern müssen, weshalb es uns absolut selbstverständlich erscheint. Dies änderte sich während der Pandemie-Hochzeit, in der Bilder von maskierten und beatmeten Menschen omnipräsent waren.

„Damals kam die Frage auf, ob es nicht andere Bilder über das Atmen gibt und wie sich die Kunst damit auseinandersetzt“, sagt Brigitte Kölle. Die Leiterin der Galerie der Gegenwart hat schon in drei vorangegangenen Ausstellungen existenzielle Themen aufgegriffen: Nach „Besser scheitern“ folgten „Die Kunst des Wartens“ und „Trauern“. Nun also „Atmen“.

Kunsthalle Hamburg: Videoinstallation zur Einstimmung

Die Resonanz unter den zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern sei enorm gewesen, so Kölle, und auch bei Kollegin Sandra Pisot, die die Kunstsammlung vom 15. bis 18. Jahrhundert leitet, kamen schnell beispielhafte Motive zusammen, die spannende Bezüge aufweisen. Das „Abbilden eines nicht abbildbaren Vorgangs“ nennt Pisot die besondere Herausforderung. Dass dies auf vielfältige Weise eben doch gelingen kann, zeigt nun ein weitläufiger Ausstellungsparcours, der sich vom Foyer der Galerie über das erste Stockwerk bis hinüber ins Hubertus-Wald-Forum zieht und 45 Positionen aus 18 Ländern präsentiert, von Alten Meistern über Skulpturen bis zu Video- und Lichtinstallationen von namhaften Leihgebern.

Direkt nachdem man seine Garderobe eingeschlossen und ein Ticket am Automaten gezogen hat, werden im Foyer zur Einstimmung verschiedene Unterwasserszenen des Künstlerduos Thomson & Craighead per Video auf einer großen Leinwand gezeigt, etwa ein Mann, der wie leblos in einer Badewanne vor sich hindümpelt oder die „Underwaterlady“, deren Haare sinnlich im großen Blau schweben. Nach einer Weile verspürt man den dringenden Wunsch, dass die Körper auftauchen, um Luft zu holen.

„Inhale“, „Hold“ und „Exhale“

Ebenfalls mit dem Reflexhaften spielt der dänische Künstler Jeppe Hein mit seiner Wandinstallation unter anderem aus pulverbeschichtetem Aluminium, Leuchtstoffröhren und Spionspiegel, die die Wörter „Inhale“, „Hold“ und „Exhale“ abwechselnd aufleuchten lässt. Interessanterweise passt sich der Betrachter automatisch diesem vorgegebenen Rhythmus aus Einatmen, Atemhalten und Ausatmen an – eine gängige Strategie bei Atemtherapie und Yoga.

Holländischer Meister: „Seifenblasender Junge“, um 1740–1760, Öl auf Eichenholz.
Holländischer Meister: „Seifenblasender Junge“, um 1740–1760, Öl auf Eichenholz. © Städel Museum

Auf diese Weise aufgewärmt geht es spielerisch weiter: Im Lichthof trudeln kleine und große Seifenblasen vom Dach auf die Besucherinnen und Besucher herab, als Analogie wird der „Seifenblasende Junge“ eines holländischen Meisters aus dem 18. Jahrhundert gezeigt. Eine Parallelität zwischen dem Atem als kreativer Inspiration einerseits und der Todessymbolik andererseits, wenn einem buchstäblich die Puste ausgeht und der Ton verhallt, sollen zwei Gemälde flötenspielender Knaben des Niederländers Hendrick ter Brugghen verdeutlichen.

Auch das Rauchen passt zum Thema

Wenn es ums Einatmen geht, bleiben natürlich gewisse Substanzen nicht aus dem Spiel: Die Künstlerin Natalie Czech hat eine Serie plakatähnlicher Bilder von gerauchten Zigaretten in Werbeästhetik geschaffen, in „Fact: True Fact“ spielt sie mit den Versprechen der Tabakindustrie („Heritage Choice“, „Cool Kiss“ etc.). Zu ihnen gesellt sich das Ölbildnis „Der Raucher, Allegorie der Vergänglichkeit“ von Hendrick van Someren (1615–1685). Joachim Koester, Jahrgang 1962, bespielt einen ganzen Raum mit seinen „Cannabis“-Archivpigmentdrucken und stellt dazu Edelsteine (dazu die Info, dass es dank des Sauerstoffgehalts in der Atmosphäre über 7000 Sorten davon auf der Erde gibt).

Die Britin Alice Channer fertigt Zeichnungen aus Zigarettenasche an und will damit auf den oft unbewussten Austausch und die Osmose von Stoffen verweisen, die Menschen unweigerlich miteinander verbinden. Die Extrem-Performance-Künstlerin Marina Abramovic und ihr Partner Ulay blockierten in „Breathing In,
Breathing Out“ von 1997 ihre Nasenlöcher mit Zigarettenfiltern und küssten sich solange, bis sie beinahe ohnmächtig wurden.

Kunsthalle Hamburg zeigt Wolkenstudien von Caspar David Friedrich

Dann doch lieber schnell durch den Korridor mit fünf Prozent extra angereichertem Sauerstoff spazieren! Einen ganz eigenen Zugang zum Thema Atmen und Sauerstoffgewinnung verfolgt der in Berlin lebende Künstler Andreas Greiner. Er entnahm Setzlinge von zwei Platanen, die vor der Rotunde der Kunsthalle stehen, und zog diese in kleinen Pflanzsäcken auf. Das Resultat sind einjährige lebende Skulpturen, die den Eingang zum Hubertus-Wald-Forum begrünen.

Um der hier zu erlebenden großformatigen Videoprojektion von Forensic Architecture Raum zu geben, wurden sämtliche Trennwände herausgenommen. In „Cloud Studies“ werden die Bombardierung von Rafah 2015 oder den Tränengas-Angriff in Plaza de la Dignidad 2020 als über die Luft übertragene Ereignisse abgebildet. An der Wand gegenüber: liebliche Wolkenstudien von Caspar David Friedrich, Johan Christian Dahl und Jacob Gensler aus einer ganz anderen Zeit.

„Atmen“ bis 15.1.2023, Galerie der Gegenwart und Hubertus-Wald-Forum (U/S Hauptbahnhof), Glockengießerwall 5, Di–So 10.00–18.00, Do 10.00–21.00, Eintritt 14,-/8,- (erm.), www.hamburger-kunsthalle.de