Hamburg. Nach vier Musiktagen auf dem Kiez ist die Bilanz erfreulich. Eine englische Band wurde bester Newcomer, Preise gingen auch nach Hamburg.
„Happy Birthday, Anna!“, schallte es am Sonnabend aus den Rängen der Elbphilharmonie. Und Anna Calvi, die an diesem Abend ihren 41. Geburtstag feierte, war irritiert. Eine Verbrüderung mit dem Publikum, das passte nicht zu der britischen Sängerin und Gitarristin, ihr Konzert zum Höhepunkt des Reeperbahn Festivals war eigentlich eine konsequente Distanzveranstaltung, mit nur wenigen Zwischenansagen, konzentriert auf die Musik.
Aber es half nichts: „Happy Birthday, Anna!“ Ein schüchternes Nicken, dann begann sie zu spielen, die scharfkantigen Riffs von „Wish“, „I Got One More Wish Before I Die / So Please Don’t You Stop Me“, schließlich setzte das Schlagzeug ein, der Synthesizer imitierte den Bass, und Calvi war wieder in der Spur. „Cherie Your Eyes“ flüsterte sie, und dann spielte sie ein minutenlanges Gitarrensolo. Es war nicht das letzte an diesem Abend.
Calvis Konzert war sinnbildlich für das Reeperbahn Festival
Bluesgetränkte E-Gitarren, Rückkopplungen, Glissandi: Die Basis dieser Musik war eigentlich nichts, womit man im aktuellen Pop auch nur einen Blumentopf gewinnt. Aber irgendwie nahm man der Londonerin das nicht übel. Weil ihre Songs nämlich erstens toll geschrieben sind, voller Wut, Leidenschaft, Schmerz. Und weil Calvi zwar eine virtuose Gitarristin ist, dieses Virtuosentum aber nicht raushängen ließ. Sie kann atemberaubende Soli spielen, aber sie weiß, dass sie das kann, und sie weiß, dass auch das Publikum das weiß, also musste sie es nicht beweisen. „Hunter“ spielte sie ganz ohne Gitarre, ohne Band, begleitet nur vom Streichquartett The Heritage Orchestra, und das funktionierte auch.
Damit verdiente sie sich dann den nächsten Ausbruch, in die Elegie „Swimming Pool“, in den harschen Industrialrock „Indies Or Paradise“, einmal sogar in einen vordergründig fröhlichen Popsong. Aber Vorsicht: Die lustigen „Schubidu“-Chöre klangen zugänglich, „Don’t Beat The Girl Out Of My Boy“ ist aber ein böser, schmerzhafter Song, in dem der queere Charakter von Calvis Musik offensichtlich wurde. Das war dann schließlich der Moment, an dem man kapierte: Die Gitarren, das Virtuosentum, das mag einem gestrig vorkommen. Aber weil Calvis Themen zutiefst heutig sind, war auch dieses Konzert eines, das perfekt zum Reeperbahn Festival 2022 passte. Viele Musikerinnen, viele Virtuosinnen an den Instrumenten, viele Überraschungen.
Cassia aus England gewann den Nachwuchs-Preis „Anchor“
Denn auch der viertägige Konzert-Marathon auf dem Kiez übertraf insgesamt die Erwartungen. Die im Voraus erhofften 35.000 bis 40.000 Besucherinnen und Besucher wurden mehr als erreicht: 41.000 Konzertfans kamen zu den 400 Auftritten von Bands aus 38 Nationen, dazu kamen 4300 internationale Gäste der Musik- und Konzertbranche zu 200 Programmpunkten mit Sessions, Networking-Events, Showcases und Preisverleihungen.
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So kürte die Jury des Festival-Nachwuchspreises „Anchor“ das britische Indie-Pop-Trio Cassia zu den besten Newcomern. Bei der Verleihung des „Helga!“-Preises für die besten deutschen Festivals gewannen unter anderem das Hamburger „Futur 2 Festival“ in der Kategorie „Grünste Wiese“ und das Lüneburger „Lunatic Festival“ für das „Beste Booking“.
Auch ein „VUT Award“ des Verbandes unabhängiger Musikunternehmen ging nach Hamburg für Sophia Kennedy und ihr Album „Monsters“. Das konnte die Avantgarde-Pop-Sängerin gleich bei ihrem Konzert im Mojo Club feiern – ein weiterer Festival-Höhepunkt.