Hamburg. Alexander Schulz über den Neustart ohne Corona-Auflagen, Fachkräftemangel und die Aussichten für die Livemusik-Branche.

Mit 282 Bands aus 38 Nationen und über 500 Einzelveranstaltungen kann das Reeperbahn Festival nach zwei ausgedünnten, von Auflagen und Einschränkungen dominierten Corona-Ausgaben dieses Jahr auf dem Kiez wieder aus dem Vollen schöpfen. Entsprechend optimistisch blickt Festival-Leiter Alexander Schulz dem am Mittwoch beginnenden, vier Tage langen Pop-Marathon in Clubs und Bars, Kirchen, der Elbphilharmonie und weiteren Spielorten entgegen.

Dennoch lassen sich die Sorgen der Branche nicht ausblenden: Kostenexplosion, Fachkräftemangel und weniger erwartetes Publikum als im Rekordjahr 2019 machen sich auch bei Europas größtem Clubfestival deutlich bemerkbar.

Hamburger Abendblatt: Wie läuft der Vorverkauf und wie viele Besucherinnen und Besucher sind zu erwarten?

Alexander Schulz: Der Vorverkauf läuft gut, besonders im Vergleich zu den Jahren 2020 und 2021. Aber natürlich sind wir noch nicht wieder beim Zuspruch des Jahres 2019. Erst seit Ende der Corona-Maßnahmen im Mai verkaufen wir Tickets im Umfang wie vor der Pandemie, aber zum Beispiel das Weihnachtsgeschäft bis Dezember 2021 war sehr übersichtlich, dazu kommt die derzeit spürbare Unsicherheit in Wirtschaft und im Privatleben. Wir rechnen mit 35.000 bis 40.000 Besucherinnen und Besuchern über vier Tage, 2019 waren es über 50.000.

Alexander Schulz, Gründer und Geschäftsführer des Reeperbahn Festivals.
Alexander Schulz, Gründer und Geschäftsführer des Reeperbahn Festivals. © Fynn Freund

Könnte es sein, dass auch die schlechten Erfahrungen, die Festivalfans 2021 auf dem Kiez gemacht haben, ihren Teil zur Entwicklung beitragen? Stundenlanges Schlangestehen, um doch nicht in einen Club zu gelangen, hatte für gehörigen Unmut und viele Beschwerden gesorgt.

Schulz: Wir haben alle individuell beantwortet, die besondere Konstellation in einem außergewöhnlichen Jahr erläutert und um Entschuldigung gebeten. Wir haben europaweit als Einzige 2021 so ein komplexes Festivalformat durchgeführt und besonders unter freiem Himmel neue Spielorte aufgebaut oder eingeplant wie auf dem Heiligengeistfeld oder in Planten un Blomen. Und wir haben kurzfristig die Durchführungskonzepte für die wenigen teilnehmenden Clubs, die selbst noch gar nicht wieder im Spielbetrieb waren, erstellt und behördlich genehmigen lassen mit im Mittel etwa 25 Prozent der jeweils regulären Kapazität. Was wir in der Tat hätten bedenken müssen war, dass ein Großteil des Publikums nach eineinhalb Jahren endlich wieder die Kiezclubs besuchen wollte und nicht die Open-Air-Konzerte, die ja in der Zeit schon wieder Alltag waren. Rein rechnerisch haben insbesondere durch die neuen Open-Air Flächen ausreichend Gesamt-Kapazität für die im Mittel pro Festivaltag gut 6000 Menschen zwischen Millerntor und Nobistor vorgehalten, aber in allen Clubs war genehmigt nur Platz für knapp etwa 1200 Gäste und der für ein normales Reeperbahn Festival typische Wechsel des Spielortes blieb dann auch aus.

Es ist psychologisch sehr zermürbend gewesen, mit Hunderten Fans 90 Minuten und länger vor dem Mojo Club, Nochtspeicher oder Molotow zu stehen, um am Ende nicht reingelassen zu werden. Gleichzeitig marschierten kurz vor Konzertbeginn die Anchor-Jury und Fachbesucherinnen und -Besucher, so genannte „Delegates“ - die viel Geld dafür bezahlten – durch den „Delegate Lane“-Schnell-Einlass und besetzten einen großen Teil der vielleicht Hundert verfügbaren Plätze. Das weckte den Eindruck eines Branchentreffs, eines Corporate Festivals wie der längst verblichenen PopKomm, nur mit zahlendem zusätzlichen Publikum als Klatsch-Staffage.

Schulz: Die Anchor-Jury aus sechs Personen muss ihre Arbeit machen können, das ist klar. Und auch ohne das in 2021 ja noch sehr reduzierte Fachpublikum hätten nur wenige unserer Gäste sehr wahrscheinlich die wenigen Musik-Clubs mit ihren erheblichen Kapazitätsreduktionen besuchen können. Ich verstehe sehr gut, wie nervig das war, schlimmstenfalls sogar noch im Regen zu warten. Aber: Es ist absolut falsch, das Reeperbahn Festival als Corporate Festival zu bezeichnen, denn ich hatte ja gerade eben bereits ausgeführt, in welch besonderer Konstellation wir uns Pandemie bedingt in 2021 befanden. Grundsätzlich ist die Bündelung der Interessen der Besuchergruppen ja gerade eines der Erfolgsrezepte des Formats, weil beide profitieren. Das Musikwirtschaftliche Interesse befruchtet den öffentlichen Erlebnishunger nach neuen internationalen Talenten und die wiederum treten vor einem sehr interessierten, aufgeschlossenen Publikum auf. Genau deshalb ist das Festival nach den schwierigen Anfängen so gewachsen.

Wird die Situation an den Einlässen dieses Jahr denn optimiert?

Schulz: Wir haben die Einlasssituation in diesem Jahr angepasst. Im Falle eines Einlass-Stopps vor einem Spielort wird nach dem Prinzip Einer rein/einer raus verfahren und abwechselnd die selbe Anzahl an Personen aus der Delegates- und der öffentlichen Schlange eingelassen. Außerdem gibt es in diesem Jahr ein Ampel-System in der Festival-App, die die aktuelle Auslastung der Spielorte anzeigt, und weiterhin individuelle News dazu.

Docks und Prinzenbar sowie Große Freiheit 36 und Kaiserkeller werden auch dieses Jahr nicht bespielt, nachdem sie in der Pandemie Querdenkern ein Forum gaben?

Schulz: Richtig. Die Große Freiheit hat sich zwar jüngst mit einem neuen Betreiber davon distanziert, aber eine Integration war für das diesjährige Festival planerisch nicht mehr umzusetzen. Trotzdem fehlen uns natürlich die beiden größten Musikclubs auf dem Kiez.

Wie hat es denn Tokio-Hotel-Sänger Bill Kaulitz in die „Anchor“-Jury geschafft?

Schulz: Die Logik kennen Sie von den Wettbewerben großen Filmfestivals: Wir besetzen jedes Jahr eine Jury, die gleichermaßen prominent, vielfältig und kompetent ist. Die Jury soll nicht nur bewerten, sondern auch die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit auf die Talente im Wettbewerb lenken und so deren Wahrnehmung und Karrieren befördern. Bill Kaulitz kennt das Musikgeschäft seit über 20 Jahren und wird die Jury mit seiner Erfahrung und besonders mit seinem Glamour bereichern und in besonderem Maße Wahrnehmungseffekte auf die „Anchor“-Nominierten umleiten. Er ist quasi ein Soziales Medium.

Was sind die Schwerpunkte und zu erwartenden Höhepunkte des Festivals 2022?

Schulz: Mein persönliches Highlight ist der Umstand, dass wir wieder einigermaßen zurück in der Normalität sind in Bezug auf die Veranstaltungsumsetzung und dass wir nach zwei beschwerlichen Pandemie-Ausgaben endlich wieder stabil veranstalten können und die Besucherinnen und Besucher so viele international geprägte Programme wie möglich uneingeschränkt erleben können. Das Programm für das Fachpublikum beginnt am Mittwoch mit einem Gespräch zwischen Igor Levit und Carsten Brosda, das einen thematischen Ausblick bietet: Wie ist wirtschaftliches Veranstalten in der post-pandemischen Lage überhaupt noch möglich, nun da auch noch die Effekte des Krieges, wie die drohende Rezession, die Energiekrise hinzu kommen?

Der aktuelle Fachkräftemangel und die Kostenexplosion in der Produktion wirken sich sicher auch auf das diesjährige Reeperbahn Festival aus?

Schulz: Wir haben unser im November 2021 veranschlagtes Produktionskosten-Budget längst ausgeschöpft und bekommen immer noch täglich Absagen von Personaldienstleistern, Stagemanagern, Produktionern, Technikern. Die nach den gut zwei Jahren Pandemie verbliebenen Dienstleister können die Preise bestimmen. Es handelt um kleine Firmen, häufig Einzelunternehmen, denen man die Preisgestaltung nun überhaupt nicht verdenken kann, auch weil der Bedarf gerade riesig ist aufgrund der Unmengen an verschobenen Konzert-Termine aus 2020 und 2021, die seit Mai nachgespielt werden. Aber wir bespielen täglich gleichzeitig bis zu 40 Bühnen, für die wir Backlines, sowie Beschallungs-, Licht- und Bühnentechnik benötigen inklusive professionelles Personal. Die Kostenexplosion ist entsprechend.

Lässt sich auch musikalisch eine Veränderung des Festivals im Vergleich zu 2019 feststellen?

Schulz: Ja. Das Reeperbahn Festival will jährlich die neuesten internationalen Strömungen und Trends in der Musik abbilden und mir fällt auf, dass es in unserem diesjährigen Programm so viele Einzelkünstlerinnen gibt im Verhältnis zu Bands und Ensembles, wie nie zuvor. Augenscheinlich hatten viele Künstlerinnen in den letzten zwei Jahren notgedrungen viel Zeit, im Alleingang sehr aufwändige, ausgefeilte Produktionen zu kreieren. Vieles ist sehr elektronisch geprägt, moderne Fusionen, eine Ed-Sheeranisierung. Die Pandemie hat durch den Stopp von Konzerten und Tourneen und deren ausgebliebenen musikalischen Inspirations-Effekten und Zeitzwängen die Ästhetik von Popmusik nach meiner Wahrnehmung spürbar verändert.

Die Reeperbahn Festivals 2020 und 2021 wollten seinerzeit Aufbruchstimmung vermitteln, stattdessen kam wenig später der nächste Lockdown. Wie sind die Aussichten dieses Mal?

Schulz: Zunächst einmal war die Mission, in den beiden zurück liegenden Pandemiejahren recht beschwerlich zu veranstalten, überhaupt ein Lebenszeichen in die Welt zu senden für unsere Branche und ihre Künstlerinnen und Künstler. Niemand kann ausschließen, dass ab November wieder alle Spielorte geschlossen werden und/oder nur noch eingeschränkt, aufwendig und unwirtschaftlich veranstaltet werden kann. Aber das hält uns nicht davon ab, immer wieder zu dieser Zeit im Jahr und auch in Zukunft ein Spotlight auf die internationale Musikwelt zu richten - jedenfalls solange wir dazu budgetär und seitens des Gesetzgebers in der Lage sind. Die Branche muss dran glauben, dass sie im Herbst und Winter weiter veranstalten kann. Und das Publikum wird feststellen, dass die Erlebnisse und Emotionen und die multiple Sinneswahrnehmung, die nur live aufgeführte Musik bietet, viel wertvoller und prägender und einzigartiger sind, als alles, was im Netz angeboten wird.

Wird es ein Reeperbahn Festival im Jahr 2023 geben?

Schulz: Ja. Ein Kontingent vergünstigter Early-Bird-Tickets steht ab dem 25. September online bereit.

Reeperbahn Festival 2023 Mi 21.9. bis Sa 24.9., Programm, Infos und Tickets ab 49,- bis 129,- unter www.reeperbahnfestival.com