Hamburg. Die ehemalige Filmförderungschefin Eva Hubert beschäftigt sich mit sexuellen Übergriffen – und spricht über die Problematik.
In Hamburg ist Eva Hubert als meinungsstarke und umsichtige Kulturakteurin bekannt. Von 1997 bis 2015 leitete sie die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein. Seit 2019 wendet sie sich nun einem anderen wichtigen Bereich in der Branche zu: Sie ist Vorstand der Themis, einer Vertrauensstelle gegen sexuelle Gewalt und Belästigung.
Wer in der Kultur- und Medienbranche übergriffiges Verhalten erlebt hat, kann sich an die Themis für psychologische und juristische Beratung wenden. Seit Januar 2022 gehören auch der Bundesverband Musikindustrie (BVMI) und der Verband unabhängiger Musikunternehmen (VUT) zum umfassenden Trägerkreis der Initiative. Wie die Themis nun auch in das Popgeschäft hineinwirken möchte, ist Thema eines Panels auf dem Reeperbahn Festival.
Hamburger Abendblatt: Als Chefin der Filmförderung waren Sie 18 Jahre lang eine Möglichmacherin, konnten Gelder ausschütten und standen somit, zumindest von außen betrachtet, auf der schönen Seite der Branche. Wann haben Sie gemerkt, dass die Film- und Medienszene ein Problem mit sexualisierten Übergriffen hat?
Eva Hubert: Naja, ganz so einfach ist es auch als Förderchefin nicht, Gelder auszuschütten. Aber das soll ja nicht Thema sein. Als ich Anfang der 90er-Jahre das erste Mal in Cannes war, unterhielten sich zwei sehr betagte Produzenten darüber, wie schade es doch sei, dass es keine Besetzungscouch mehr gebe. Ich dachte zuerst, die machen einen Witz. Aber dann klärte mich eine ältere Kollegin darüber auf, dass das ernst gemeint sei. Dass sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch existieren, habe ich im Zuge meiner Arbeit immer wieder mitbekommen. Wobei der Film bei Weitem nicht die einzige Branche ist, in der solche Dinge geschehen. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Mit der #MeToo-Bewegung sind 2017 zahlreiche Fälle publik geworden, ausgelöst durch Berichte zu Regisseur Harvey Weinstein, dessen Prozess nach wie vor andauert. Wie blicken Sie fünf Jahre später auf diese Zeit?
Hubert: Ich finde es sehr gut, dass inzwischen so offen über die Vergehen gesprochen wird. Aber es kommt ja nicht von ungefähr, dass die Frauen, die sich getraut haben, alle Einzelheiten zu erzählen, entweder ausgesprochen etabliert oder eigentlich schon wieder raus waren aus der Branche. Über solche Geschehnisse zu reden, ist enorm schambehaftet. Nach wie vor befürchten Betroffene oft, Nachteile für ihre Karrieren zu erfahren.
2018 hat die Arbeit der Vertrauensstelle Themis begonnen. War das eine direkte Auswirkung von #MeToo?
Hubert: Ja, definitiv. Der Justiziar des Bundesverbands Schauspiel bekam immer mehr Fälle, nachdem der Hashtag #MeToo in den sozialen Medien aufgetaucht war. Da entstand das Bewusstsein: Das ist ein größeres Problem der Branche. Es folgten mehrere runde Tische mit Verbänden von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite – von Verdi über den Deutschen Bühnenverein bis zur Produzentenallianz. Staatsministerin Monika Grütters sagte damals: Das ist eine wichtige Sache, ich lege für drei Jahre 300.000 Euro auf den Tisch.
Welche Aufgabe hat die Themis konkret?
Hubert: Eine junge Schauspielerin zum Beispiel, die eine Belästigung erlebt hat, möchte sich oftmals nicht direkt an den Herstellungsleiter oder die Produzentin in eben jener Firma wenden, in der sich der Übergriff ereignet hat. Da fungiert die Themis als überbetriebliche Vertrauensstelle. Wichtig ist, dass sich Betroffene auch anonym melden können, um den ersten Schritt zu erleichtern. Meistens rufen sie an und sagen: Mir ist etwas passiert, darf ich da mal drüber reden, wahrscheinlich bin ich ja viel zu empfindlich, aber…
Es geht also um die Frage, wann sexuelle Belästigung anfängt.
Hubert: Prinzipiell gilt, dass sexuelle Belästigung immer dann vorliegt, wenn das Verhalten einer anderen Person unerwünscht, übergriffig und einseitig ist. 60 Prozent der Fälle sind dabei verbaler Natur, angefangen bei Kommentaren zum Äußeren, über den Busen oder den Hintern beispielsweise. Stark zugenommen hat auch die digitale Belästigung, also etwa das Versenden sogenannter Dickpics oder schlüpfrige Mails. Bei 40 Prozent handelt es sich wiederum um physische Belästigung, mit einer enormen Bandbreite – vom vermeintlich unabsichtlichen Naherücken über den Griff an den Po bis hin zu im Schnitt acht Vergewaltigungen, die uns jährlich von Betroffenen berichtet werden. Die Erfahrungen unserer Beraterinnen zeigen zudem: In der Regel kommt sexuelle Diskriminierung nicht allein, sondern ist gepaart mit Machtmissbrauch, häufig auch mit Rassismus oder Angriffen gegen Menschen mit Handicap. Diese Personen sind mehrfach vulnerabel.
Wie viele Menschen haben sich bereits an die Themis gewandt?
Hubert: Seit 2018 hatten wir 1600 Beratungsgespräche und 750 Fälle, davon zu 85 Prozent von Frauen. Einen Anstieg gab es mit Beginn der Pandemie, da viele Betroffene im Lockdown überhaupt erst die Zeit hatten, über Erlebnisse nachzudenken, die sie zum Teil seit Jahren mit sich herumtragen. Es läuft ja selten so: Ich kriege morgens am Set eine blöde Anmache und am Abend rufe ich bei Themis an. Wenn sich jemand bei uns meldet, hat die Person eine hohe Hürde genommen. Wir gehen zunächst immer davon aus, dass ihr etwas zugestoßen ist, was sich für sie als unerwünscht und übergriffig anfühlte. Viele fühlen sich im Gespräch mit Themis das erste Mal ernst genommen und erleichtert. Allerdings ist die Hemmschwelle noch hoch, im Anschluss an die Beratung eine Beschwerde an den Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin zu richten. Das wäre ein erster rechtlicher Schritt, den man im Falle sexueller Belästigung gehen kann.
Laut einer aktuellen Studie des Bundesverbands Schauspiel haben vier von fünf Schauspielerinnen und etwa der Hälfte der männlichen Kollegen bereits sexuelle Grenzverletzungen erlebt. Ist die Branche besonders anfällig dafür?
Hubert: Ob nun Schauspiel oder Musik: Das sind künstlerische Berufe, die sehr körperlich geprägt sind. Das ist anders als bei der Büroarbeit. Das heißt: Man hat mehr physischen Kontakt zueinander. In Theater und Film sind zudem die Atmosphären oft familiär, aber die Hierarchien zugleich sehr steil. Nur sehr wenige entscheiden, wer die Jobs kriegen. Gerade junge Schauspielerinnen erzählen: Man geht was trinken und vielleicht muss man mit dem Regisseur dann auch mal enger tanzen, alles ist ja so familiär.
Apropos Arbeitsatmosphäre: Auch die Musikbranche, die sich gerne aufgeschlossen gibt, heißt nicht alle Geschlechter auf Augenhöhe willkommen. Siehe: männlich geprägte Festivals und Strukturen oder auch misogyne Texte und Gewalt im Deutschrap. Sind das für Sie Gründe, nun auch diesen Bereich bei Themis einzubinden?
Hubert: Unbedingt. Allerdings ist der BDKV, der Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft, von sich aus auf Themis zugekommen. Die MaLisa-Stiftung von Maria und Elisabeth Furtwängler, die sich ja stark für Geschlechtergerechtigkeit in Medien und Musik einsetzt, hat dann weitere Gespräche mit der Branche initiiert. Auch in diesem Bereich setzen wir nicht nur auf Beratung, sondern auch auf Prävention: Unsere Beraterin für die Musikbranche entwickelt derzeit Module mit den Musikhochschulen. Dort findet besonders viel Einzelunterricht statt, sodass bei unklaren Situationen das Korrektiv einer Gruppe fehlt. Toll ist, dass die Studierendenvertretungen das Thema sehr engagiert an ihren Schulen vorantreiben.
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Stichwort: Generationswechsel. Regisseur Dieter Wedel, der 2021 wegen Vergewaltigung angeklagt wurde, starb vor Abschluss des Verfahrens. Erledigt sich das Problem der toxischen alten weißen Männer bald von selbst?
Hubert: Es ist leider zu einfach, das Phänomen allein den alten weißen Männern zuzuschreiben. Wedel und Weinstein repräsentieren natürlich diese Gruppe, doch leider gibt es auch etliche sexuelle Belästigungen innerhalb flacher Hierarchien und jünger geprägter Arbeitsumfelder. Und in diesen Strukturen ist es zum Teil sogar schwieriger, die Gemengelage zu klären. Etwa wenn permanent sexistische Witze gemacht werden und verlangt wird, da mitzulachen. Und: Wir haben zwar festgestellt, dass weibliche Führungskräfte, etwa Theaterintendantinnen, aufmerksamer mit Themen wie sexualisierter Gewalt umgehen. Aber allein dass eine Frau an der Spitze ist, macht nicht alles gut. Letztlich geht es darum, gemeinsam an einem künstlerischen Produkt zu arbeiten. Und damit sich bei diesem Prozess alle Beteiligten sicher und wohlfühlen, gilt es, zusammen aufmerksam zu bleiben und fair miteinander umzugehen. Unser Ziel ist es, da einen Kulturwandel zu schaffen.
Weitere Infos zur Vertrauensstelle
Themis: www.themis-vertrauensstelle.de