Hamburg. Opening mit tollen Newcomern und einem Überraschungsauftritt. Doch es ging am Mittwoch nicht nur um Musik und Party.

Die Show muss weitergehen. Zwei Jahre lang, 2020 und 2021, war das Reeperbahn Festival für alle Beteiligten auf und neben den Bühnen eher eine Quälerei, eine Trotzreaktion, im besten Fall ein Lebenszeichen. 8000 verloren sich im ersten Pandemiejahr auf dem nahezu ausgestorbenen Kiez und schlotterten auf Sitzplätzen mit Abstand bei Open-Air-Konzerten oder in den wenigen Clubs, wo 2019 noch an vier Tagen 52.000 Konzertfans und Fachpublikum gezählt worden waren.

Bitter. 2021 wurde es nicht besser. Zwar waren 25.000 Besucher erlaubt, aber die balgten sich, stundenlang und oft vergeblich im Regen stehend, um eine Handvoll erlaubter Plätze in den Clubs.

Dieses Jahr ist dem Anschein nach endlich wieder alles normal. Keine Corona-Auflagen, kein brachliegender internationaler Popverkehr und ein volles Programm mit 282 Bands aus 38 Nationen. 500 Einzelveranstaltungen und erwartete 35.000 bis 40.000 Besucher sollen den Kiez bis Sonnabend wieder zum Mittelpunkt der europäischen und übersee­ischen Popkultur machen.

Reeperbahn Festival 2022: Kraftklub gibt Überraschungskonzert

Am Mittwochnachmittag scheint die Sonne, im „Festival Village“ auf dem Heiligengeistfeld geht die Hamburger Indie-Songwriterin Deer Anna mit spätsommerlichen, selbstreflektierenden Songs auf die Bühne, und das Publikum diskutiert, wann und wo demnächst der heiße Scheiß zu erleben ist.

Zum Beispiel die Chemnitzer Rockband Kraftklub, die am Mittwoch wie seinerzeit bereits Deichkind, Muse oder Beatsteaks einen Überraschungsauftritt auf der Reeperbahn plant. Alles wie immer, die Show geht weiter. Zumindest noch ein bisschen.

Die Sängerin Ellie Goulding war bei der Eröffnungsgala mit dabei.
Die Sängerin Ellie Goulding war bei der Eröffnungsgala mit dabei. © Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Denn ein Thema, das besonders bei den Branchenvertretenden der Agenturen und Labels und in Hamburgs Clubszene omnipräsent ist, sind die düsteren Aussichten auf die kommenden Monate. „The Show Must Go On“ heißt entsprechend eine Initiative, die von den mehr als 100 Hamburger Musikspielstätten, vertreten durch das Clubkombinat, zum Start des Reeperbahn Festivals ausgerufen wurde. Das neue Infektionsschutzgesetz, auslaufende Bundeshilfen, Preisexplosion und Publikumsmangel sind in der Kombination potenziell gefährlich genug, um der nach zwei Jahren Stillstand angezählten Clubszene den Rest zu geben.

Clubkombinat fordert weitere Fördermaßnahmen

In einem Zehnpunkteprogramm fordert das Clubkombinat daher unter anderem die Verlängerung und den Ausbau der Hilfs- und Fördermaßnahmen für die Clubkultur sowie Finanzhilfen wegen gestiegener Energiepreise, feste Ansprechpersonen in der Kulturbehörde und – aktuell besonders interessant – einen „zweckgebundenen Einsatz des Hamburg-Förderanteils am Reeperbahn Festival, um die Auswirkungen des größten Club-Festivals Europas für die lokale Clubszene zu kompensieren“.

Was darunter konkret zu verstehen ist, will das Clubkombinat derzeit noch nicht ausführen. Aber bekannt ist: 2020 unterstützte die Stadt das Festival mit 500.000 Euro, der Bund schoss zusätzlich 800.000 Euro zu den 2019 zugesicherten jährlichen 8,4 Millionen Euro dazu, auch das Auswärtige Amt ließ sich mit 750.000 Euro nicht lumpen. Das Festival ist ein erheblicher Prestige- und Wirtschaftsfaktor für Stadt und Land. Was aber die Club­szene, ohne die das Festival nur eine Messe wie die 2008 verblichene „PopKomm“ wäre, von den Millionen direkt oder indirekt­ abbekommt, ist debattierbar. Ist Politik.

Das Reeperbahn Festival 2022 ist politischer denn je

Als die Show, die große Eröffnungsgala des diesjährigen Reeperbahn Festivals, beginnt, wird klar: Das Reeperbahn Festival ist politischer denn je. Amy Gutmann, Botschafterin des Festival-Gastlands USA in Deutschland, sowie Natalia Klitschko, die Noch-Ehefrau des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko, Jan Delay, der innerhalb von drei Wochen zum dritten Mal mit Udo Lindenberg "Reeperbahn" gesungen hat, Zoe Wees, Ellie Goulding und „Anchor“-Jurymitglied Bill Kaulitz sind die Stargäste im Operettenhaus. Schon am Nachmittag wurde bei den Branchentreffs oder von Kultursenator Carsten Brosda und Pianist Igor Levit im „Festival Village“ die Frage diskutiert: „Wie politisch muss Musik sein?“

Denn Politik macht die Musik, wie auch Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher bei seiner Eröffnungsrede im Operettenhaus verdeutlicht: „Das Reeperbahn Festival ist eine einzigartige Feier der Livemusik und der Clubkultur, und es spricht wichtige Zukunftsthemen der Musikindustrie wie Diversität und Nachhaltigkeit an. Dazu gibt das diesjährige Festival auch Stimmen aus der Ukraine eine besondere Bühne.

Energiekrise hat Konsequenzen für uns alle

Der Krieg gegen unseren europäischen Nachbarn verursacht großes Leid und hat zu einem Umdenken in der internationalen Sicherheitsordnung geführt. Das Ergebnis ist auch eine Energiekrise, die Konsequenzen für uns alle hat, für unsere Wirtschaftssysteme, unsere Musik- und Veranstaltungsindus­trie, für unser tägliches Leben. Im Angesicht des Krieges ist es lebenswichtig, dass die Demokratien weltweit zusammenstehen für Frieden und Freiheit. Das ist heute Abend Hamburgs Botschaft.“

Die Gala läuft noch, als diese Worte zu Poplyrik werden. Im Headcrash auf dem Hamburger Berg spielen die ukrainischen Künstlerinnen und Künstler Kebu & Saymory, Daniel Zubkov alias Lucas Bird und Hypen Dash: Moderne, unique Sounds zwischen Hip-Hop, Jazz, Electro und Folklor­e, die die Aufhebung aller Grenzen und ehernen Gesetze, die seit einigen Jahren im Pop immer mehr spürbar wird, unterstreichen.

Reeperbahn Festival 2022 ist weiblicher geworden

Dazu gehört auch, dass das Reeperbahn Festival 2022 – auch das ist ein politischer Faktor – noch weiblicher geworden ist: 55 Prozent beträgt der Anteil von Frauen im Programm. Trotz aller immer noch schwer zu überwindenden Hürden im Popgeschäft drängen sie auf die Bühnen. Solange es noch welche gibt.