Hamburg. Ausstellung „UnBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett“ am MARKK ermöglicht einen anderen Blick auf Rituale der Körpermodifikation.
„Wer schön sein will, muss leiden.“ Ein scheinbar überholtes Sprichwort, und doch hält es sich hartnäckig in den Köpfen, vor allem denen von Frauen. Ob Diäten, Fitness- und Schlankheitswahn, das schmerzhafte Ausreißen unerwünschter Härchen, Piercings, Tätowierungen oder sogenannte Schönheitsoperationen – die Liste der Körpermodifikationen, heute unter dem Modebegriff „Selbstoptimierung“ gefasst, ist lang. Und ebenso lang ist auch ihre Geschichte.
Körpermodifikationen sind in allen Kulturen verbreitet, sie dienen verschiedenen gesellschaftlichen Zwecken, folgen nicht nur Schönheitsvorstellungen, sondern dienen auch der Zuordnung zu sozialen und kulturellen Gruppen; sie wirken identitätsstiftend. Im Laufe gesellschaftlicher Veränderungen kommen sie aus der Mode oder werden von sozialen Bewegungen als überkommene Traditionen bekämpft.
Ausstellung Hamburg: Wie Körper eingeschnürt und befreit werden
Das in China verbreitete Ritual des Füßebindens und die in Europa populäre Praktik des Korsetttragens sind dafür beispielhaft: Beide entstanden als Merkmal der sozialen Abgrenzung, weiteten sich aber im 19. Jahrhundert auf alle Gesellschaftsschichten aus. Bis sie schließlich im 20. Jahrhundert aufgegeben wurden.
Im MARKK widmet sich eine Ausstellung eben diesen beiden Phänomen und untersucht deren Verflechtungen. „UnBinding Bodies“ bezieht sich auf das Binden oder Einschnüren der Körper („Binding“) im realen wie im übertragenen Sinn und thematisiert gleichzeitig den Widerstand der Frauen dagegen („Unbinding“).
Wie kann ein Umgang mit solch sensiblen Objekten heute gelingen?
Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung war eine Vitrine im Foyer des Centrums für Anatomie der Humboldt-Universität zu Berlin mit der fußmedizinischen Sammlung des Anatomen Hans Virchow, einschließlich zahlreicher Präparate, Abgüsse, Röntgenbilder und Fotografien von sogenannten Lotosfüßen, den gebundenen Füßen chinesischer Frauen. „Ich fragte mich, wann und wie sie nach Berlin gekommen waren und warum sich Virchow dafür interessiert hatte“, sagt Jasmin Mersmann, Kuratorin am TAT – Raum für forschende Ausstellungspraxis an der Berliner Universität.
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„Für mich ist es aus heutiger Sicht unverständlich, wie derartige Exponate unkommentiert und ohne in einen Kontext eingebettet ausgestellt werden können.“ Die Frage, die sich daraus ergab: Wie könnte ein angemessener Zugang zu solch sensiblen Objekten heute aussehen? Zusammen mit Evke Rulffes und Felix Sattler, ebenfalls vom TAT, sowie mit der chinesischen Forscherin Dorothy Y. Ko vom Barnard College in New York, forschte sie weiter zum Thema. Und stieß so auf die Sammlung des Museums am Rothenbaum.
Mehr als 1000 Jahre lang wurden chinesischen Mädchen die Füße gebunden, um sie klein zu halten, zu formen und auf diese Weise Vorstellungen weiblicher Anmut zu entsprechen. Zierliche Füße standen ebenso für eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse und signalisierten etwa der Familie des Ehemannes, dass die Frau sich dem Oberhaupt, in diesem Fall der Schwiegermutter, beugen würde.
Chinesische Frauen werden nicht nur als Opfer dargestellt
Aus europäischer Sicht wirkte dieses Ritual, das von Müttern an ihre Töchter weitergegeben wurde, befremdlich bis abscheulich. Zwar wusste man lange Zeit wenig Konkretes über die Praxis, aber allein der Gedanke, dass die Füße Tag und Nacht stramm gebunden werden mussten, um in wenige Zentimeter kleine „Lotosschuhe“ gezwängt zu werden, verursachte Unbehagen. Und so kann es einem auch heute ergehen, wenn man die Ausstellung im MARKK betritt und mit diesem Thema konfrontiert wird.
Das erste großformatige Bild, das einem begegnet, ist eine Fotografie von Junxiao Quin: Wir sehen eine ältere Chinesin auf einem Fahrrad mit auffallend kleinen Füßen. Auf einem weiteren Foto von Beate Passow ist eine Gruppe Boule spielender Chinesinnen zu sehen. Die jeweilige Datierung – 2002 und 2000 – sorgt erst später für Irritation. Der erste Gedanke ist indes: Wie konnten die Frauen, derartig gehandicapt, mit den Schmerzen leben, geschweige denn sich überhaupt bewegen? Je weiter man in die kulturhistorische Ausstellung eintaucht, von den Traditionen, Hintergründen und persönlichen Geschichten chinesischer Frauen erfährt, wird der typisch westliche Blick darauf als eindimensional entlarvt.
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Der Schwerpunkt liegt weniger auf dem, was die Frauen nicht konnten, als darauf, was sie aus ihrer Situation machten. „Wir wollten die chinesischen Frauen nicht nur als Opfer eines Rituals darstellen. Das Schönheitsritual existiert nach wie vor für sie“, sagt Kuratorin Evke Rulffes. „Neben den Schmerzen, die jede von ihnen ertragen musste, bedeuten die gebundenen Füße und der damit einhergehende Status auch Selbstermächtigung.“
Darstellern der Pekingoper wurde die Taille verschnürt
Bei aller kuratorischen Bestrebung, eine andere, offenere Perspektive auf das Ritual des Füßebindens zu entwickeln, erstaunt es doch, dass die Erfahrungsberichte zweier junger Chinesinnen, die sich ganz konkret auf die extrem schmerzhafte und gesundheitsschädigende Praxis beziehen, hoch oben in kaum leserlichen Wandtexten versteckt sind. Wer Offenheit und Aufklärung will, muss auch das Risiko eingehen, sein Publikum mit derartigen Schilderungen zu konfrontieren und gegebenenfalls auch zu verstören.
Ergänzt werden die Ausstellungsobjekte und Berichte durch verschiedene künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema. Zhang Gong, der bei der Ausstellungseröffnung anwesend war und eine Videoarbeit beigesteuert hat, stammt aus einer Familie von Darstellerinnen und Darstellern der Pekingoper. Auch für ihn war dieser Beruf vorgesehen. Dazu sollte sein Körper in eine bestimmte Form gebracht werden: Im Alter von zehn bis zwölf Jahren musste er jede Nacht einen fest geschnürten Gürtel um die Taille tragen, damit seine Hüfte schmal blieb.
Zhang Gong erklärt, dass man in seiner Heimat einen anderen Umgang mit Schmerz habe. „Was der Körper sagt, hat keine große Bedeutung. Es ist der Geist, der das Handeln bestimmt.“ Trotzdem habe er „Glück gehabt“, dass er die Prozedur nur drei Jahre ertragen musste, so der Künstler. Denn mit Beginn des Kommunismus in der Volksrepublik China blieben die Zuschauer der Pekingoper fern, und seine Familie gab diesen Berufszweig auf.
Heute quetschen sich Frauen freiwillig in High Heels
Ebenso wurde auch das Ritual des Füßebindens unter Mao Zedong verboten. Für Frauen, die mit dieser Praxis aufgewachsen waren, stellte dies in zweierlei Hinsicht ein Problem dar: Zum einen ließen sich die über Jahre oder Jahrzehnte extrem verformten Füße nicht wieder in den ursprünglichen Zustand versetzen, und das „Unbinding“ war zudem mit äußersten Schmerzen verknüpft. Zum anderen waren die meisten Chinesinnen stolz auf ihre kleinen Füße. Vielleicht genauso stolz wie standesbewusste Europäerinnen einst ihre Wespentaille verteidigten. Und sich heutige Frauen – ganz freiwillig – in zehn Zentimeter hohe High Heels quetschen.
„UnBinding Bodies. Lotosschuhe und Korsett“ bis 26.2.2023, MARKK (U Hallerstraße, Bus 114), Rothenbaumchaussee 64, Di-So 10.00-18.00, Do 10.00-21.00, Eintritt 8,50/4,50 (erm.), www.markk-hamburg.de