Hamburg. Kultursenator Carsten Brosda spricht über barbarische Verbrechen, Hamburgs Hilfe für geflüchtete Künstler und den Fall Anna Netrebko.
Der Krieg in der Ukraine wird an vielen Fronten geführt. Die Kultur ist eine davon. Sandsäcke stapeln sich auch vor gefährdeten Museen, Kunstschaffende fliehen, die kulturelle Identität eines Landes wird bewusst bedroht. Gleichzeitig lief und läuft die Debatte über den Umgang mit russischen Künstlerinnen und Künstlern, die eine ungesunde Nähe zum russischen Machtapparat pflegten. Ein Gespräch mit Kultursenator Carsten Brosda über Zerstörungen und konkrete Unterstützungsangebote, über die Reaktionen der Kulturszene und die Wahrnehmung eines Klassikbetriebs, der sich „viel zu wenig um Politik geschert hat“.
Ihr erstes Buch hieß „Die Zerstörung“ und drehte sich um die Wut der Zivilgesellschaft, um die Zerstörung der Zuversicht, des öffentlichen Gesprächs. Welchen Grad von Zerstörung wir erleben und beobachten würden, konnten Sie damals noch nicht ahnen…
Carsten Brosda: Dass wir zu unseren Lebzeiten einen solchen Angriffskrieg in Europa erleben, die Dimension physischer Gewalt, die angewendet wird, das haben wir alle nicht mehr für realistisch gehalten. Ich glaube, das am meisten gebrauchte Wort der letzten Wochen war „fassungslos“. Das Gefühl, keine Worte dafür zu finden, was da passiert. Die ganzen 1990er-Jahre gab es eigentlich keine globale Bedrohung, höchstens den Eindruck, wir kriegen manche Dinge hier bei uns nicht hin. Dann kam der 11. September. Von da an ging es gefühlt immer die nächste Stufe bergab. Vorher hatten wir doch den Eindruck, wir haben es weitgehend in der Hand, wenn wir nur vernünftig sind. Diese Zuversicht schwindet.
Zu den „hochemotionalisierten Angstszenarien“, über die Sie damals geschrieben haben – wohlgemerkt: lange vor Corona und erst recht lange vor dem Krieg – haben sich existenzielle hinzugesellt. Zerstörungs- und sogar Vernichtungsszenarien, vor denen man durchaus Angst haben muss. Wie kann die Kultur dieser Angst begegnen, was kann sie ihr erwidern?
Carsten Brosda: Kultur hat die Fähigkeit, Räume zu öffnen, in denen man etwas ausprobieren kann. Dieses „So tun als ob“ ist immer damit verbunden, dass man zeigt: Es kann anders sein als es jetzt ist. Max Frisch hat sinngemäß mal gesagt, dass man im Theater die Welt spielend als veränderbar begreifen kann. Darin steckt für mich die Hoffnung der Kunst. Die Tatsache, dass ich etwas spielen kann, schafft die Möglichkeit oder den Glauben, dass ich die Welt auch real in einen anderen Zustand bringen kann.
Ausgerechnet ein Theater ist in Mariupol von solch einem Möglichkeitsraum zur Todesfalle für darin Schutzsuchende geworden. Ist es legitim, angesichts der vielen Gräuel ein zerbombtes Theatergebäude als besonders symbolhaft zu erleben?
Carsten Brosda: Die Gräuel, die an den Menschen verübt wurden, sind natürlich die, die uns zuvorderst beschäftigen müssen. Im Keller dieses Theaters sind ja wahrscheinlich 300 Menschen ums Leben gekommen. Und vorher gab es schon den Angriff auf die Geburtsklinik als Gipfel des Verbrechens. Aber natürlich ist auch die Zerstörung von Kulturgütern ein völkerrechtswidriger Akt. Und natürlich sieht man an der Dimension und der Systematik, in der Russland versucht, Kulturgüter in der Ukraine zu zerstören, dass das auch ein Angriff auf die kulturelle Identität dieses Landes ist. Es geht darum, Menschen zu vernichten – es geht aber auch darum, ihnen ihre Definition dessen, was sie als Gesellschaft ausmacht, zu nehmen, indem man ihre Artefakte zerstört. Das ist auch ein Verbrechen.
Man kennt das aus anderen Zusammenhängen, als zum Beispiel die Taliban die Buddha-Statuen von Bamiyan gesprengt haben.
Carsten Brosda: Dem Gegner die eigene Identität nicht zugestehen zu wollen, heißt nicht nur ihn physisch auszulöschen, sondern auch das, womit er sich in die Geschichte eingeschrieben hat. Das halte ich für barbarisch, da fällt mir auch kein anderes Wort ein.
Kann sich die Ukraine davon erholen?
Carsten Brosda: Ich glaube: Ja. Man erlebt ja bereits jetzt, dass das Bewusstsein für die Ukraine wächst, auch das kulturelle Bewusstsein. Ich vermute, dass passiert auch im Land selbst, kann das aber von außen gar nicht wirklich beurteilen, aber: Sicher geschieht das bei uns. Wir haben in der Schule viel über die Sowjetunion gelernt, und als die zusammenbrach, haben wir unser Wissen auf die Länder der russischen Föderation übertragen. Die Länder, die es da noch so gab, haben wir im Grunde ignoriert. Die tauchten in unserem Alltagsbewusstsein kaum auf. Wenn wir versuchen, ehemalige Sowjetrepubliken auf der Landkarte richtig zuzuordnen, wird es schwierig. Wir hatten – trotz der vielen Kooperationen, die es ja schon lange gibt – gesamtgesellschaftlich keinen kulturellen Bezug zur Ukraine. Der wächst aber gerade, da passiert etwas. Ich hoffe, das wird das Fundament des Wiederaufbaus.
Die globale Nähe und Einigkeit, die wir im Corona-Anfang erlebten, spürt man jetzt wieder. Zu Corona-Zeiten drehte sich dieses Gefühl dann schnell und ziemlich radikal. Wie lange geben Sie der überwältigenden Solidarität jetzt noch?
Carsten Brosda: Man sollte natürlich vorsichtig sein mit Prognosen. Aber dieser Krieg hat in jedem Fall schon mal die Nato wiederbelebt. Die hatte der französische Präsident Macron noch 2019 als „hirntot“ bezeichnet – das hat sich fundamental geändert. Gestiegen ist aber auch ein Bewusstsein dafür, dass man sich um bestimmte Errungenschaften und Werte kümmern muss. Dass man sie verteidigen muss. Auch weil sie offensichtlich nicht nur innerhalb der Gesellschaften erodieren, sondern die auch von außen angegriffen werden. Entscheidend ist deshalb nicht nur, dass wir in der Lage sind, uns zu verteidigen, sondern auch, dass wir wissen, was wir eigentlich verteidigen. Deshalb müssen wir auch nachhaltig in die Kultur investieren. Diese Debatte halte ich am Ende für mindestens so wichtig wie die über die Reform des Beschaffungswesens der Bundeswehr. Viele sind aufgerüttelt dadurch, dass die Ukrainer sagen, sie verteidigen hier gerade die Werte von Freiheit und Solidarität. Und sie tun das auch für uns, gegen eine Aggression, die ein anderes Gesellschaftsbild will als das, das wir gemeinsam leben. Auch wir hier erleben ja, wie öffentliche Kommunikation unterlaufen wird und Fake News gestreut werden. Das ist ein Versuch, uns dazu zu bringen, die Offenheit unserer Gesellschaft in Frage zu stellen. Die Gefahr von außen wirkt immer etwas nachhaltiger als die Reflexion darüber, wie man Dinge durch eigene Dusseligkeit kaputtmacht.
Wie haben Sie die Reaktionen der Kulturszene auf den Krieg beobachtet?
Carsten Brosda: Das erste, was wir erlebt haben, war der Versuch, der Fassungslosigkeit eine Form zu geben. Daraus sind sehr schnell und unmittelbar – hier in Hamburg zum Beispiel am Thalia Theater, am Schauspielhaus oder in der Staatsoper – die Benefizabende geworden. Das gemeinsame Zusammenkommen, auch und gerade mit ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern, und das Sammeln von Geld. Es gibt mittlerweile ein Netzwerk der Hamburger Kultureinrichtungen, die sich regelmäßig zusammenschalten und überlegen, was sie noch gemeinsam machen können. Ganz praktisch. Hamburger Museen sammeln Verpackungsmaterial, damit Kulturgüter in der Ukraine geschützt werden können. Und es wird daran gearbeitet, ukrainische Festivals hierher zu holen. Mit dem Bühnenverein und dem internationalen Theaterinstitut bereiten wir eine Plattform vor, um verfügbare Jobs an den Bühnen bekannt zu machen. Gerade ist eine unglaubliche Bereitschaft da, etwas zu tun.
Wie kann die Stadt Hamburg geflüchteten Künstlerinnen und Künstlern ganz konkret helfen?
Carsten Brosda: Wir haben 2019 das Programm „Intro“ entwickelt, mit dem wir Künstlerinnen und Künstlern mit Fluchtbiografien helfen, mit hiesigen Kulturinstitutionen in Kontakt zu kommen und gemeinsam Projekte umzusetzen. Das erweitern wir und unterstützen die Einrichtungen dabei, sechsmonatige Residenzen anzubieten. Wir beschränken das übrigens nicht auf Ukrainerinnen und Ukrainer. Gleichzeitig schreibt die Hamburgische Kulturstiftung gemeinsam mit vielen weiteren Stiftungen einen Hilfsfonds direkt für Künstlerinnen und Künstler aus. Auf diesen beiden Wegen bieten wir die Möglichkeit, schnell wieder in Arbeit zu kommen. Ein Tänzer muss sich ja bewegen, eine Musikerin muss proben, dafür braucht man Rahmenbedingungen.
Nun gab und gibt es einerseits viele Benefizabende und die von Ihnen geschilderte Unterstützung. Andererseits sind zugleich manche russische Künstlerinnen und Künstler neu in den Fokus gerückt. Ist es richtig, dass Konzerthäuser Auftritte und Verträge von Künstlern wie Anna Netrebko oder Valery Gergiev überprüft und aufgekündigt haben?
Carsten Brosda: Ich war überrascht, wie schnell diese Fragen gestellt wurden. Wir haben als Gesellschaft die verhängnisvolle Eigenschaft, Uneindeutiges nicht gut aushalten zu können. Die ganze russische Kultur der letzten 500 Jahre für böse zu erklären, das hielte ich für einen Fehler – und da findet die Debatte ja mittlerweile auch deutlich differenzierter statt. Unsere Maßgabe ist: Alles, wo es um direkte Kooperation mit dem russischen Staat geht, können wir zur Zeit nicht machen. Es würde von russischer Seite missbraucht werden als Beleg dafür, dass wir das, was gerade passiert, nicht so schlimm finden. Deshalb legt beispielsweise die Hamburger Kunsthalle Projekte mit der St. Petersburger Eremitage erst einmal auf Eis. Auch da, wo Künstler oder Künstlerinnen eine Nähe zum System Putin haben oder durch diese Nähe Privilegien genossen haben und nicht in der Lage sind, sich vernünftig dazu zu verhalten, besteht keine Grundlage für weitere Zusammenarbeit. Da hat es auch viele nicht-öffentliche Gespräche zwischen Frau Netrebko und ihrem Umfeld und der Elbphilharmonie gegeben. Das hat am Ende zur Entscheidung geführt, dass sie hier nicht auftritt. Das finde ich auch richtig. Und wenn man bedenkt, dass jemand wie Valery Gergiev die Annexion der Krim feierte, in Syrien vor russischen Soldaten und mit einem zugeschalteten Putin ein Konzert gegeben hat und heute eiskalt schweigt, ist auch die Entscheidung, seinen Münchner Vertrag einseitig aufzukündigen, richtig gewesen. Was uns aber nicht passieren darf, ist, dass wir die kulturellen Bezüge zu den freien Akteurinnen und Akteuren der russischen Kulturszene abbrechen oder gar keine russischen Stoffe mehr auf die Bühne bringen. Also: Distanz zu den Freunden Putins – aber denen helfen, die an einer anderen Vorstellung der russischen Gesellschaft arbeiten.
Ist es legitim, sich als russischer Künstler nicht zum Krieg zu verhalten?
Carsten Brosda: Wenn man sich vorher auch nicht verhalten hat: Ja. Politische Bekenntnisse dürfen nicht regelhaft zur Voraussetzung künstlerischen Arbeitens werden.
Anna Netrebko hat sich darauf zurückgezogen, keine „politische Person“ zu sein, hat sich allerdings auch schon mit der „Neurussland“-Flagge fotografieren lassen ...
Carsten Brosda: ... und ihren 50. Geburtstag im Kreml gefeiert. Das machen und dann jetzt über den Anwalt behaupten lassen, man sei nicht politisch? Da verkauft man das eigene Publikum für dumm. Wer Nähe gezeigt hat, muss sich glaubwürdig verhalten.
Netrebkos Elbphilharmonie-Konzert ist ja nicht abgesagt, sondern nur verschoben. Gehen Sie davon aus, dass sie je wieder in der Elbphilharmonie singen wird?
Carsten Brosda: „Je wieder“, das weiß ich nicht...
Fangen wir mal mit dem September an, in den der Auftritt verschoben worden ist ...
Carsten Brosda: Ich glaube nicht, dass es gut wäre, wenn dieses Konzert dann stattfindet.
Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow hat davon gesprochen, eine „weiße Liste“ russischer Künstler zu führen. „Wer uns unterstützt, den unterstützen wir“, hat er sinngemäß gesagt. Wie sehen Sie diesen Vorschlag?
Carsten Brosda: Ich schätze Andrej Kurkow als Autor sehr. Aus ukrainischer Sicht mag diese Idee plausibel zu begründen sein, aber ich halte sie für uns aus guten Gründen nicht für richtig. Es braucht schon die sehr konkrete Ansehung der einzelnen Kooperation. Und es ist gut, wenn das nicht staatlicherseits passiert, sondern wenn eine Kultureinrichtung entscheidet, ob etwas passt oder nicht. Auch das ist Ausdruck der Kunstfreiheit. Diese Freiheit müssen wir schützen.
Haben Sie Verständnis für den ukrainischen Botschafter in Berlin, der seine Teilnahme am Benefiz-Konzert des Bundespräsidenten vehement abgelehnt hat?
Carsten Brosda: Ich habe Verständnis dafür, dass er sagt, er möchte bei einem Solidaritätskonzert für die Ukraine, bei dem auch russische Künstler auf der Bühne stehen, nicht dabei sein. Ich finde es trotzdem richtig, dass dieses Konzert stattgefunden hat. Wenn man genauer hinschaut, sowohl auf die beteiligten Musikerinnen und Musiker als auch auf die Stückauswahl und die Präsenz eines ukrainischen Komponisten, lässt es sich differenzierter bewerten. Diese Differenzierung treffe ich aber aus der gemütlichen Perspektive eines deutschen Kulturpolitikers. Das ist ganz sicher anders für einen ukrainischen Botschafter. Grundsätzlich halte ich es für wichtig, Brücken nicht ganz abzubrechen. Es ist richtig, dass Kultur nicht auf Sanktionslisten steht. Der kulturelle Austausch ist häufig das letzte, was noch geht. Das muss man sich bewahren. Aber natürlich muss man sehen, welche Signale man sendet. Im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und St. Petersburg gibt es zum Beispiel auch Kontakte zu den Machern eines queeren Filmfestivals dort, und das sind natürlich genau die Leute, die uns gerade jetzt brauchen.
Im Theater und im Film hatte Politik schon immer einen anderen Raum. Sehen wir vor allem im Klassikbetrieb jetzt eine Politisierung, die dort zuletzt wenig spürbar war?
Carsten Brosda: Der Klassikbetrieb war der Bereich, wo man zu oft meinte, mit dem Guten, Wahren und Schönen weit zu kommen, wobei es da natürlich auch Ausnahmen gab. Igor Levit hat in den letzten Jahren alle daran gewöhnt, dass es auch klassische Musiker gibt, die vor einem Konzert mal ihre Meinung sagen. Unpolitisch war der Betrieb auch sonst nicht – wenn Gergiev in Ossetien oder Syrien dirigiert, ist das ein politisches Statement. Wenn Frau Netrebko Geld für ein Opernhaus in Donezk sammelt, auch.
Man hat nur nicht so genau hingesehen?
Carsten Brosda: Das ist ja das Dramatische. Unsere Wahrnehmung des Betriebs ist eine, die sich viel zu wenig um Politik geschert hat. Als Gergiev in München angestellt wurde, wurde er als einer der besten Dirigenten gefeiert. Da war er schon aktenkundig mit problematischen Aussagen. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, Herrn Gergiev hier als Generalmusikdirektor anzustellen. Wenn jemand die Kunstfreiheit nutzt, um Kriegsverbrechen oder Diskriminierung zu rechtfertigen, dann kann es mit dem Verständnis für diese Freiheit nicht weit her sein.
Wollte man das als Publikum und auch als eine die Klassik unterstützende Politik nicht wahrhaben?
Carsten Brosda: Es hängt am sich verändernden Kontext. Vorher war es die Nähe zu einem problematischen Autokraten, jetzt kann es als Rechtfertigung eines Angriffs- und Vernichtungskrieges gelesen werden. Vorher waren die Tätigkeiten und Aussagen der erwähnten Künstler im Bereich des Unappetitlichen, jetzt sind sie im Bereich des Unaushaltbaren. Würden wir Kunst generell danach bewerten, welche charakterliche Eignung die Künstler so haben, hätten wir einen etwas anderen Kanon. Wir abstrahieren also, aber das geht nur bis zu einem gewissen Punkt. Der ist hier überschritten. Aber ganz ehrlich und bei aller Notwendigkeit der differenzierten Betrachtung: Am wichtigsten finde ich im Moment die Überlegung, dass wir ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern helfen und dafür sorgen, dass ihre Arbeit hier anders wahrgenommen wird. Dauerhaft. Wir reden immerhin über das zweitgrößte Land Europas. Dafür kennen wir relativ wenig bis gar nichts. Ich habe neulich Joseph Roths „Reisen in die Ukraine und nach Russland“ wieder zur Hand genommen, darin beschreibt er unter anderem, dass die ukrainische Kultur Anfang der 1920er-Jahre schon mal für einen kurzen Moment das angesagteste war, das es gab. Es gibt unglaublich viel wiederzuentdecken.