Hamburg. Ein Gespräch mit der finnischen Sopranistin Camilla Nylund über das Lernen von Rollen und andere Herausforderungen.

Es ist augustheiß draußen vor dem Bayreuther Festspielhaus und Camilla Nylund ist ein kleines bisschen im Stress. Sie hat hier in diesem Sommer eine Elsa im „Lohengrin“ zu singen – und die Noten für eine „Walküre“ in der Tasche dabei, weil sie die Brünnhilde für einen neuen „Ring“ in Zürich einstudieren muss.

Man könnte sich das Sängerinnenleben leichter machen. Aber für allzu Einfaches ist die finnische Sopranistin offenbar nicht zu haben.

Hamburger Abendblatt: Wann und wo war Ihnen zum ersten Mal klar, dass Sie sich den richtigen Job ausgesucht haben?

Camilla Nylund: Das war bei einer Probevorstellung in Hannover. Fuß zu fassen, war nicht so einfach, es war schwierig, einen Studienplatz zu bekommen und jemanden zu finden, bei dem man eine gute Technik lernen konnte. Ich war eine Suchende, aber ich wusste nicht, wie man stützt, wie man einen hohen Ton singt. Meine Lehrerin in Salzburg hat an mich geglaubt. Das mit Hannover hätte aber auch schiefgehen können. Man hatte mir dort angeboten, die Woglinde im „Rheingold“ zu singen. Meine Lehrerin meinte: Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage! Sagen Sie nein! Ich habe nein gesagt und dachte, o Gott, es kommt nie wieder ein Angebot aus Hannover. Dann sollte ich da aber noch einmal vorsingen und man bot mir eine Vorstellung als Micaela in „Carmen“ an. Da habe ich gespürt: Das ist meine Chance. Und in der ersten Pause der Vorstellung wurde mir ein fester Vertrag angeboten.

Richtig wie im Bilderbuch, mit Vertrag und „Bitte unterschreiben Sie hier“?

Nylund: Genau. Natürlich habe ich nicht gleich unterschrieben…

… sondern wegen der Gage gepokert…

Nylund: Genau… Ich dachte, ich hätte eine Super-Gage ausgehandelt und bekam einen Schock, als ich den ersten Gehaltszettel erhielt und die vielen Abgaben sah... Da habe ich gemerkt: Ich habe so viel Freude daran. Ich habe ein Glücksgefühl, wenn ich auf der Bühne stehe. Das war ein Schlüsselerlebnis.

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Woran - abgesehen von der Sprache - merkt man, dass Sie Finnin sind?

Nylund: Daran, dass ich eine Kämpferin bin. Die Finnen haben ihr „Sisu“. Wir geben nicht so leicht auf, das hat vielleicht auch mit der Kargheit des Landes zu tun und mit dem harten Winter. „Keep Calm and Carry On“, und beide Füße auf die Erde. Hart arbeiten und bescheiden sein. Das ist in diesem Beruf manchmal schwierig, aber es hilft mir natürlich auch. Denn man muss jeden Tag aufs Neue diesen Beruf erlernen.

Wir sind im Bayreuther Festspielhaus, auf heiligstem Boden für Wagnerianer. Für Sie ist das inzwischen ein Heimspiel, Sie waren 2011 als Elisabeth zum ersten Mal hier engagiert. Wie ist es, an diesem Haus zu singen?

Nylund: Auch meine Reise nach Bayreuth war, wie soll ich sagen: nicht sehr geradlinig. Hans-Peter Lehmann, damals Intendant in Hannover, war sehr lange Wieland Wagners Assistent in Bayreuth und hat gleich nach meinem ersten Jahr in Hannover gesagt, ich müsse dort unbedingt vorsingen. Das hat er für mich im Sommer 1996 organisiert. Ich bin voller Ehrfurcht hierhin gefahren, hatte eine Logen-Karte für „Meistersinger“ und saß dort zusammen mit dem Dirigenten Giuseppe Sinopoli. Renée Fleming und Peter Seiffert haben gesungen und Barenboim hat dirigiert. Ich saß also da, kam direkt aus Finnland, war etwas müde und habe mich nicht getraut, am nächsten Tag vorzusingen und das abgesagt.

Was man normalerweise nur unter Androhung der Todesstrafe täte.

Nylund: Die hatte ich damit wahrscheinlich bekommen, dachte ich, und habe viele Jahre nichts von Bayreuth gehört. Es sollte wohl nicht sein, Schicksal, ich sollte hier nicht mit einer kleinen Rolle anfangen. Wenn ich eine kleine Rolle singe, bin ich immer frustriert. Die ganzen kleinen Wagner-Rollen hatte ich dann ja auch gesungen…

Klingt so, als seien Sie für Hauptrollen geboren.

Nylund: Eigentlich ja. Ich liebe es, wenn ich viel auf der Bühne zu tun habe. Meine Offenbarung war meine erste „Salome“, da konnte ich von Anfang bis Ende auf der Bühne sein.

Von so einer Einstellung wird das Ego nicht unbedingt kleiner.

Nylund: Das ist aber auch meine Kämpfernatur. Auch in meinen kühnsten Träumen hatte ich mir nie vorstellen können, dass ich einmal eine Salome, eine Elisabeth oder eine Isolde singen kann.

Und wie ging es mit Bayreuth weiter?

Nylund: Herr Lehmann hat versucht, mich hier schmackhaft zu machen. Doch das Thema hatte ich weggelegt. Mit meiner Lehrerin hatte ich die Elsa ausprobiert, aber ich fand es schwierig. Wagner ist keine leichte Kost. Die „Meistersinger“-Eva habe ich in Hannover gesungen und mit der Partie gekämpft, weil sie sehr tückisch ist.

Und wer hat die Tür zum Festspielhaus wieder geöffnet?

Nylund: 1999 bin ich nach Dresden gezogen, habe viel Strauss und viel Wagner gesungen. 2002 kamen dort die „Meistersinger“, die letzte Vorstellung einer Inszenierung von Wolfgang Wagner. Er kam mit seiner Frau Gudrun und ich habe mich natürlich nicht getraut. Ich war ja kein Star, keine bedeutende Sängerin. Eine komische Situation. Und dann sollte ich in Bayreuth vorsingen, für Katharina Wagners „Meistersinger“. Das habe ich auf der Bühne getan, ich war irrsinnig nervös. Es hat nicht geklappt. Eine andere wurde genommen, ich war aber nicht sehr enttäuscht, weil ich dachte, dass Eva für mich nicht die richtige Partie ist, um hier anzufangen. 2008 sang ich in Salzburg „Rusalka“ und nach der Premiere kam Eva Wagner zu mir und fragte, ob ich nicht Lust hätte, in Bayreuth die Elisabeth im „Tannhäuser“ zu singen. Da habe ich natürlich zugesagt und musste nicht mal vorsingen. 2017 kam Sieglinde und später das Angebot, 2019 die Eva zu übernehmen. Barrie Koskys Produktion fand ich sehr witzig, ich habe viele Freunde hier und es gibt schlechtere Plätze, an denen man den Sommer verbringen kann… (lacht). Aber dann habe ich gleichzeitig auch die Elsa im „Lohengrin“ gesungen. Das war sehr hektisch, danach kam die Pandemie, 2021 wieder die Eva, nun singe ich nochmal die Elsa…

… und jetzt können die hier nicht mehr ohne Sie…

Nylund: Das würde ich nicht sagen. Es wird sich zeigen, ob ich hier noch etwas zu singen bekommen, es gibt noch einige interessante Partien.

Eigentlich hatten Sie ja nicht Wagner-Heldin, sondern Pop-Sängerin werden wollen. Warum hat das nicht geklappt?

Nylund: Wahrscheinlich habe ich nicht die richtigen Leute kennengelernt.

Schon mit sechs haben Sie in der Band vom Cousin Ihres Vaters gesungen.

Nylund: Alles Mögliche, rauf und runter: finnische Schlager, Tango, ABBA-Songs… Ich konnte damals noch nicht so gut lesen und Englisch aussprechen, meine Mutter hatte mir deswegen die Texte in Lautschrift aufgeschrieben.

Wie findet das Lernen dieser Riesenpartien statt, auf die Sie abonniert sind?

Nylund: Meistens mit einem Pianisten, learning by doing.

Man muss es sich aber trotzdem merken.

Nylund: Das Auswendiglernen ist wirklich das Allerschlimmste für eine Sängerin, aber was soll man machen.

Die Rolle ist nach drei Monaten im Kopf, aber in drei Tagen wieder raus?

Nylund: Das hängt auch davon ab, wie lang man geprobt hat, bei einer Neuinszenierung ist dieser Zeitraum länger. Das Gehirn ist einfach ein fantastisches Gerät. Bei einer Rolle von vor fünf oder zehn Jahren denke ich, ich kann mich überhaupt nicht erinnern. Dann singst du es einmal durch, ein oder zwei Stunden mit einem Pianisten, und sie ist wieder da.

Von der Opernbühne sehen Sie Ihr Publikum oft gar nicht, sondern singen und spielen in ein schwarzes Loch. Ist das schöner, als die Menschen zu sehen oder schlimmer?

Nylund: Manchmal sieht man einige Gesichter in den ersten Reihen. Beides hat Vor- und Nachteile. Wenn man sie sieht, sieht man ja auch die Regungen in den Gesichtern. Das Wichtigste aber ist danach der Applaus und das Feedback.

Das Schlimmste, das Ihnen ein Dirigent antun kann?

Nylund: Irgendein Tempo vorzugeben, bei dem man das Gefühl hat, dass er nur sein Ding macht und ich muss sehen, wie ich mitkomme.

Das Schlimmste, das ein Regisseur mit Ihnen machen kann?

Nylund: Einfach zu sagen: Zeigen Sie mir was. Oder schlecht vorbereitet zu sein.

Auf Ihrem Niveau ist die Opernwelt sehr klein. Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen begegnen sich überall in den gleichen Stücken wieder, nur in wechselnden Kostümen. Warnen Sie sich gegenseitig vor Regisseuren oder Dirigenten?

Nylund: Klar tauscht man sich aus. Es gibt Kollegen, die man lieber hat als andere, das ist wie im wirklichen Leben. Es gibt vielleicht nur einen wohlgemeinten Rat: Pass bitte dort auf. Das muss man aber immer einordnen können.

In Berlin haben Sie die „Jenufa“ mit Sir Simon Rattle gesungen, die Rolle hat später Askmik Grigorian übernommen. Lassen Sie in solchen Fällen einen Zettel als Gebrauchsanweisung in der Garderobe da?

Nylund: Nein. Ich habe sie einmal in Wien getroffen, wir haben ja nie zusammen gesungen. Jeder muss seinen Weg machen und die Rolle so gestalten. Ich will ja nicht jemand kopieren. Am liebsten ist mir, wenn ich meine Seele, mein Gefühl in die Rolle geben kann. Man muss auch die Fehler machen dürfen.

Was hilft Ihnen gegen die Last-Minute-Panik am Bühnenrand, zwei Minuten, bevor es losgeht?

Nylund: Das habe ich nur, wenn ich vielleicht nicht hundertprozentig bin oder ein bisschen krank und nicht weiß, wie die Stimme das jetzt schaffen wird. Eigentlich bin ich immer zuversichtlich. Es ist immer ein freudiges Erwarten. Man ist wie ein Rennpferd in der Box oder ein Rennauto, man will raus und es zeigen.

Wie halten Sie als Opern-Star es mit Liederabenden? Dieses Format ist Ihnen nicht inzwischen zu klein?

Nylund: Nein, ich finde, dass es eigentlich schwieriger ist, einen Liederabend zu singen als eine Isolde. Bei einem Liederabend stehst du alleine da, du hast nicht drei Wochen lang geprobt, du musst dich so sehr konzentrieren, hast keinen Souffleur. Da zittere ich schon mehr als auf der Opernbühne.

Sie unterrichten auch. Gilt bei Ihnen das Prinzip „Goldenes Herz“ oder „Eiserne Hand“?

Nylund: Beides. Ich habe mit meiner ersten Lehrerin auch beides gehabt, sie war sehr streng, aber das hat mich auch sehr geprägt. Ich habe auch geweint und war oft verzweifelt, habe mir aber gedacht: Nein, ich muss kämpfen und das machen. Meine jetzige Lehrerin lebt in Dresden und ist ganz anders. Auch streng, über 90. Wenn ich zu ihr gehe und meine Rolle durchsinge, dann weiß ich, das kann ich überall singen.

Viele können sicher nicht nachvollziehen, dass jemand auf Ihrem Niveau nach wie vor ganz selbstverständlich noch Unterricht nimmt. Unterricht klingt auch nach: Ich weiß es nicht, ich kann es nicht.

Nylund: So ist es aber nicht. Du brauchst jemand, der dich begleitet. Einen guten Pianisten oder zwei. Denkst du, ich kannst es jetzt, dann hast du schon verloren. Jede Rolle hilft, die nächste besser zu machen.

Stichwort Rolle: Im Hamburg sind Sie im Januar in Hamburg an der Staatsoper, in der Titelpartie von Schostakowitschs „Lady Macbeth“. Können Sie mir schon sagen, was da ungefähr geplant ist, oder müssten Sie mich danach umbringen?

Nylund: Ich weiß noch gar nichts.

Warum haben Sie dann schon unterschrieben? Das ist doch die Katze im Sack kaufen.

Nylund: Na ja, wenn ich alles wissen würde, was auch mich zukommt, würde ich nur ständig mit Fragen beschäftigt sein. Ich habe das Vertrauen, dass es interessant und spannend wird und ich werde natürlich meinen Teil dazu beitragen. Wir wollen ja alle, dass es ein Erfolg wird.

Für Sie ist das ein Rollendebüt, wir haben Anfang August, einige Monate vom Januar entfernt. Wann müssen Sie…

Nylund: … Ich hätte schon längst anfangen sollen. Es stand aber so viel anderes an. Aber in dieser Woche, am Freitag und Samstag, habe ich mir das mit meinem Pianisten aus Dresden vorgenommen. Großes Ehrenwort. Mein Mann muss unbedingt die Noten mitnehmen, die liegen noch in Dresden. Russisch habe ich gottseidank schon gesungen.

Ich weiß, wie Ihre Stimme klingt, aber wie würden Sie sie mir beschreiben, wenn ich das nicht wüsste?

Nylund: Sie ist sehr wandelbar. Eigentlich ist sie sehr lyrisch, hat aber eine gewisse Stahlkraft, natürlich auch durch meine Aufgaben. Man muss immer daran arbeiten, dass die Stimme nicht zu unruhig wird, die lyrische, jugendliche Farbe möchte ich behalten. Natürlich bin ich meiner Stimme sehr dankbar. Man muss seine Stimme auch immer lieben. Manchmal fordert man sehr viel von ihr, dann muss man sie wieder in Watte legen und ein bisschen streicheln.

Reden sie wortlos miteinander?

Nylund: Ich denke schon. Wie geht es ihr heute? Lass mich bitte nicht im Stich. Es ist ein Leben zusammen mit seinem Instrument.

Klingt alles so, als ob Sie nie einen Plan B für Ihr Leben gehabt haben. Sie sind ein Bühnentier.

Nylund: Ich bin das totale Bühnentier. Schon als Kind hab‘ ich leidenschaftlich Theater gespielt. Schauspiel, Theater, Gesang, auf der Bühne stehen – dann kann daraus ja nur Opernsängerin werden, also: das Gesamtkunstwerk.

DVD: Janacek „Jenufa“, Sir Simon Rattle, Staatskapelle Berlin (C Major, 25 Euro). Konzert: 1. November, Elbphiharmonie, Gr. Saal, mit den Münchner Philharmonikern und Philippe Jordan: Auszüge aus Wagners „Götterdämmerung“ u.a. Oper: „Lady Macbeth“, Premiere an der Hamburgischen Staatsoper am 22. Januar, dirigiert von Kent Nagano.