Hamburg. Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja äußert sich in der Freien Akademie der Künste deutlich zum Krieg. Die Hintergründe.
Man möchte sich an diesem Abend in der Freien Akademie der Künste viele Sätze notieren. So klar benennt und verurteilt die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja diesen Krieg. So schöne Bilder findet sie über das Schreiben, so genau seziert sie die Herausforderungen der Gegenwart, so vielschichtig spiegeln sich die Tragödien des vergangenen Jahrhunderts in ihren Werken.
Aber ein Satz sticht dann doch heraus, weil er beim ersten Hören derart verblüfft: „Ich habe mich im Grunde nie besonders für Politik interessiert“, sagt Ljudmila Ulitzkaja. Ihre langjährige Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt (die beiden ähneln einander wie Schwestern) überträgt die Worte mit einem feinen Lächeln. Weil sie ja schon weiß, was Ulitzkaja nachschiebt: „Aber die Politik zwang mich, mich zu äußern.“
Lesung: Ulitzkaja sah sich zum Mut gezwungen
Ljudmila Ulitzkaja, die studierte Biologin und „Grande Dame“ der russischen Gegenwartsliteratur, aus deren Feder so eindrucksvolle Romane stammen wie „Das grüne Zelt“ (2012) oder „Jakobsleiter“ (2017, alle erschienen im Hanser Verlag), war 2020 mit dem Hamburger Siegfried Lenz Preis ausgezeichnet worden.
Die Verleihung konnte wegen der Corona-Pandemie nur als Radiosendung ohne Publikum stattfinden – umso glücklicher zeigten sich nun Akademie-Präsidentin Monique Schwitter und Günter Berg, Vorstand der Siegfried Lenz Stiftung, über ihren Podiumsgast. Einerseits. Denn andererseits sind die Umstände dieses Besuchs erschreckend, sie sind natürlich wieder von der Politik beeinflusst – und erneut sah sich Ulitzkaja zum Mut gezwungen.
„Heute, am 24. Februar 2022, hat ein Krieg begonnen"
Noch am Tag des Kriegsausbruchs hatte sich die Autorin mit einer Stellungnahme zu Wort gemeldet: „Heute, am 24. Februar 2022, hat ein Krieg begonnen. Ich dachte immer, meine Generation, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, hätte Glück gehabt, wir würden ohne Krieg weiterleben, bis zu unserem Tod, der, worum wir stets als orthodoxe Christen beten, ,friedlich, schmerzlos und nicht peinlich‘ sein möge. Aber daraus scheint nichts zu werden.“
Ulitzkaja schrieb vom „Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger“ und von ihrer Scham, „weil offensichtlich ist, dass die Regierung unseres Landes die Verantwortung trägt für diese Situation, die großes Unglück über die gesamte Menschheit bringen könnte“. In Hamburg nun schärft Ulitzkaja, die schon früher einen sehr klaren Blick auch auf Wladimir Putin formuliert hatte, ihre Kritik erneut, sie fühle „Angst, Abscheu und Verachtung für diese Regierung, die sich so verhält“.
„Es könnten vier Jahre werden“
Hat es Konsequenzen, so zu sprechen, so zu schreiben? Davon muss man wohl ausgehen. Vor vier Tagen ist Ulitzkaja, die einst den Systemkritiker und Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn heimlich auf handkopierten Einzelblättern las (und auch diese Erfahrung zu kluger, humorvoller Literatur verdichtete), aus Moskau nach einer Odyssee über Abu Dhabi, Tel Aviv und Istanbul in Deutschland angekommen.
„Es könnten vier Jahre werden“, fürchtet sie und man hört ihrer dunklen Stimme die Traurigkeit an. Eine „so unbestimmte Situation“, sagt Ljudmila Ulitzkaja, habe sie noch nicht erlebt. Das Schreiben, das sie bildhaft mit dem Formen eines Schneeballs vergleicht, empfindet sie dabei als „seelenrettende Tätigkeit“ – und empfiehlt es umgehend weiter: „Schreibt! Wenn wir etwas formulieren müssen, schärfen wir unsere Gedanken.“
Lesung: Ulitzkaja über die heutige Welt
Leider brauche der Erkenntnisgewinn beim Menschen („auf der ganzen Welt gibt es kein schädlicheres Lebewesen“) immer so lange, seufzt Ulitzkaja. „Unsere heutige Welt ist so ungeheuerlich verschwenderisch, dafür müssen wir einen hohen Preis zahlen.“
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Mit der Klimakrise verhält es sich dabei wie mit der Politik: Ob man sich besonders dafür interessiert, ist nicht entscheidend. Die Umstände zwingen einen so oder so zur Beschäftigung.