Hamburg. Das Dokudrama „Heinrich Vogeler – Aus dem Leben eines Träumers“ zeichnet die Stationen eines tragischen Künstlers nach.

Die Plakate zum Kinofilm „Heinrich Vogeler“ tragen den Untertitel „Aus dem Leben eines Träumers“. Wer im Kino sitzt, liest zu Beginn des Films jedoch einen anderen Untertitel: „Maler, Genosse, Märtyrer“. Und der zeichnet ein weit breiteres Spektrum des Künstlers.

Ja, ein Träumer war er zunächst schon, sogar der „Märchenprinz des deutschen Jugendstils“. Als er sich wie so viele andere deutsche Maler um 1900 in der Künstlerkolonie Worpswede ansiedelte, baute Vogeler sich sogar ein eigenes Paradies, Barkenhoff, das heute ein Museum ist und nicht nur seine Gemälde zeigt, sondern auch die von ihm verfertigten Möbel und Tapeten: ein Gesamtkunstwerk des Jugendstils. Und ja, Vogeler kleidete sich auch gern als Ritter. Und malte sich auch so. Ein Träumer, der sich eine eigene Insel fernab der realen Welt erschaffen hat. Und doch davon abhängig war, dass seine Kunst im Diesseits gekauft wurde.

Ein Märchenprinz: Statt Selbstmord ging es in den Ersten Weltkrieg

Doch zunehmend war dieser träumerische Vogel von Selbstzweifeln geplagt. „Meine Kunst ist tot, mein Leben ein Irrtum“, schrieb er einmal. Statt Selbstmord zu verüben, zog er in den Ersten Weltkrieg und wollte das Schicksal entscheiden lassen. Die Erfahrungen, die er hier als Kriegsreporter und -maler machte, zerrütteten seine Seele aber erst recht. Er schrieb einen offenen Friedensbrief an Kaiser Wilhelm II., betete sogar, „dass diese Worte der Kaiser liest, dann mag er die Feigheit haben, mich erschießen zu lassen“. Er wurde stattdessen in eine Irrenanstalt gesteckt.

Danach war er erst recht ein anderer. Wandte sich dem Kommunismus zu, enterbte seine Familie und schenkte Barkenhoff den Arbeitern. In der Sowjetunion sah er die letzte Utopie, wollte helfen, eine neue, gerechtere Gesellschaft aufzubauen, und zog nach Moskau. Wo seine Ideale aber auch bald verraten wurden. Vogeler wurde schließlich ein Opfer der stalinistischen Verfolgungen. Und starb 1942, völlig entkräftet, in einer kasachischen Kolchose, in die man ihn deportiert hatte. Wo er begraben liegt, ist bis heute unbekannt. Ein Träumer? Ein Mann, der an eine bessere Welt glaubte – und von dieser Welt gleich mehrfach eines Besseren belehrt wurde.

Große Ausstellung zum 80. Todestag

In diesem Jahr jährt sich Vogelers Geburtstag zum 150. Mal (am 12. Dezember) und sein Todestag zum 80. Mal (am 14. Juni). Deshalb steht Worpswede das ganze Jahr über ganz in dessen Zeichen und widmet ihm in all seinen Häusern seit 27. März und bis 6. November die große Ausstellung „Heinrich Vogeler. Der neue Mensch“. Und nun kommt Vogeler auch groß ins Kino. Aber nicht mit einem klassischen Biopic, wie wir das etwa in „Paula“ (2016) über Paula Modersohn-Becker erlebt haben, einer anderen Worpsweder Berühmtheit (worin Vogeler nur eine kleine Rolle spielte). Oder wie Marie Noëlle selbst, die Regisseurin von „Heinrich Vogeler“, in ihrem viel beachteten Film „Marie Curie“ (2016) das Leben der Physikerin erzählt hat.

Nein, wie Vogeler in der Sowjetunion seine neuen Komplexbilder gestaltete, Alltagsszenen, die wie Scherben neu zusammengesetzt wurden, so hat Noëlle quasi einen Komplexfilm entwickelt, um der zerrissenen Lebens- und Seelen-Vita gerecht zu werden. Ein Dokudrama, das Spiel- mit Dokumentarszenen vereint und in denen hochkarätige Schauspieler wie Florian Lukas (als Vogeler), Anna Maria Mühe (als seine Frau Martha) oder Johannes von Bülow (als Schriftstellerfreund Rainer Maria Rilke) auftreten. Gedreht an Originalschauplätzen, also auch in Worpswede, um den Genius Loci zu beschwören. Dazu gibt es viel Archivmaterial, natürlich die Werke von Vogeler, aber auch Zeitungen, Filme, Fotos und Radioaufnahmen aus jenen Jahren.

Ein Film, wie eine Therapie-Sitzung

Der Titeldarsteller erzählt sein Leben in Ich-Form, teils direkt in die Kamera. Diese Angaben werden aber immer wieder von einem polymorphen Chor kommentiert: von Beate Arnold, der Leiterin des Barkenhoffs und Heinrich-Vogeler-Museums, von Daniela Platz und Berit Müller, Vogelers Urenkelinnen, von dem Historiker Helmut Donat und dem Biografen Klaus Modick, aber auch von dem Künstler Norbert Bisky und sogar einer Psychoanalytikern, Jeanette Fischer. Vogelers Eigenaussagen werden hier also permanent interpretiert, und der Künstler liegt offen auf der Couch.

Aber auch das ist Noëlle nicht genug. Sie arbeitet mit zahlreichen Verfremdungen. Das ist hübsch, wie die Schauspieler lebensgroße Fotokopien der von ihnen verkörperten Gestalten in Händen halten und dann um den eigenen Körper wickeln, so also in ihre Rollen schlüpfen. Soll aber auch irritieren, wenn Vogeler durch seine eigenen Bilderwelten irrt. Oder im historischem Gewand durchs heutige Paris flaniert, mit Notre-Dame als derzeitiger Baustelle. Doch es sind der Ebenen zu viel. Und die Schauspieler haben kaum Zeit, ihre wenigen Szenen auszuspielen.

Ein verzweifelter Märchenprinz – Vogeler wird ins Zentrum gerückt­

Noëlle hat sich vielleicht etwas zu viel zugemutet. Dies Leben zwischen zwei Weltkriegen, mehreren Lebensfluchten, zwischen gescheiterten Lieben und gescheiterten Idealen – es schreit geradezu nach einer Verfilmung. Aber es ließe sich wohl auch in drei Stunden kaum erzählen, geschweige denn in einem 94-Minüter, der sich noch in Nebenspuren verliert.

Heinrich Vogeler ist dabei nie ganz zu fassen. Und doch wird der Maler und Lebensreformer, der immer etwas hinter den anderen Größen von Worpswede, den Modersohns, Overbecks und Fritz Mackensen, zurücksteht, nun einmal ins Zentrum gerückt. Ein Anfang immerhin.

„Heinrich Vogeler – Aus dem Leben eines Träumers“ 94 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Zeise