Wentorf. Sammler Rik Reinking eröffnete die Saison mit dem so fulminanten wie verstörenden Werk des Berliner Künstlers Wolfgang Petrick.
Draußen schönstes Naturidyll an den Ausläufern des Sachsenwaldes, drinnen wechselnde großangelegte Ausstellungen, die aus der beachtlichen Privatsammlung von Rik Reinking stammen. Keine Frage: Was der renommierte Hamburger Sammler sich auf dem einstigen Landsitz eines belgischen Kaufmanns in Wentorf aufgebaut hat, sprengt die gängigen Dimensionen eines Kunstortes.
Das Woods Art Institute (WAI) ist mit 2400 Quadratmetern Ausstellungsfläche, mehreren reetgedeckten Fachwerkhäusern und einem modernen Campus mit Galerie, Sammlungsräumen, Künstlerateliers, einem Boarding House sowie einer Malschule vielmehr ein Refugium, das zum Durchatmen – besonders für Großstädter – und Kunsterleben einlädt und häufig mit dem Louisiana Museum für moderne Kunst nördlich von Kopenhagen verglichen wird. Mit dem Unterschied, dass das WAI am Wald und nicht am Wasser liegt. Dieser „Dreiklang aus Natur, Kunst und Begegnung“ war es, den Reinking vor Augen hatte, als er sein Mammutprojekt startete; 2020 feierte er zusammen mit seiner Frau Julia und seinem Team groß Eröffnung – dann kam Corona, und damit war Begegnung nur noch ein ferner Sehnsuchtsbegriff.
Aussstellung: Riesenandrang statt "lost exhibition" im Woods Art Institute
Was dazu führte, dass absolut sehenswerte Ausstellungen wie „Terence, Tim & Trier“ im vergangenen Jahr quasi zu „lost exhibitions“ wurden. Darin präsentierte sich der Schweizer Tim Steiner mit seinem berühmten Rückentattoo, das die Weltreligionen darstellt, nächtens via Livestream, der kanadisch-chinesische Superstar Terence Koh war mit seinen künstlerischen Selbstinszenierungen zwischen (Wieder)Geburt und Tod vertreten, und der umstrittene Regisseur Lars von Trier steuerte eine Installation bei, die den Tod aus der Sicht eines Serienkillers betrachtet und schon in dessen Film „The House That Jack Built“ (2018) zu sehen war. Sie zieht eine Linie zu Dantes „La divina comedia“, versteht sich als das Tor zur Hölle. Die dauerhafte Installation unter dem Ausstellungshaus ist nur auf Anfrage zu besichtigen.
Nun aber, gut zwei Jahre später, ist der Besucherandrang riesengroß, der Innenhof des WAI platzte buchstäblich aus allen Nähten, als ein sichtlich bewegter Rik Reinking am vergangenen Sonntag die erste Ausstellung nach dieser langen Pause in Anwesenheit des Künstlers Wolfgang Petrick eröffnete. Er habe sich in dessen frühe Arbeiten aus den 1970er-Jahren verguckt, dann eine Zeit lang mit Petricks Werk gehadert, um ihn schließlich vollends für sich zu entdecken, so der Sammler. Das Produkt dieser wechselvollen Leidenschaft ist eine fulminante Retrospektive, die das malerische, zeichnerische, grafische wie bildhauerische Können Petricks gleichermaßen aufzeigt.
Wolfgang Petricks Werk wird im Woods Art Institute gezeigt
Eine Neuentdeckung, das dürfte der Künstler für die meisten Besucherinnen und Besucher sein. Wolfgang Petrick wurde 1939 in Berlin geboren, wo er auch aufwuchs und zunächst Biologie studierte, um recht schnell zu merken, dass sein Herz für die Kunst brennt. Was ihn an die Hochschule für bildende Künste führte. In den 1950ern begann sein künstlerisches Schaffen, inspiriert durch Bauhaus, Abstrakten Expressionismus, Art Brut und gestische Malerei. 1964 war Petrick zusammen mit Markus Lüpertz als Mitbegründer an der ersten Produzentengalerie in Deutschland, Großgörschen 35, beteiligt. Heute lebt und arbeitet er in Berlin und New York.
In kleinen Kabinetten wird das von sozialkritischen Themen geprägte Werk des vielfach ausgezeichneten Künstlers chronologisch aufgefächert. Im ersten Raum wird man mit einer riesengroßen Gitarre aus Pappmaché und kuriosen Zeichnungen empfangen. Gleich darauf der zweite Hingucker: ein großformatiges Mixed-Media-Bild, das sich durch ungewöhnliche Perspektiven und Materialeinarbeitung dreidimensional auf die Betrachter zuzubewegen scheint. Darauf zu sehen: Mann, Frau? Wer weiß es schon genau?
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In den Skulpturen begegnen einem Totenköpfe, Kinderpuppen in fantasievollen Kleidern oder mit Bauarbeiterhelmen drapiert, dazu werden Versatzstücke aus Literatur sowie vereinzelte Fotografien collagiert. Der menschliche Körper ist oft deformiert, gequetscht, verfremdet – glücklich wirkt in der Tat niemand in Petricks Arbeiten. „Wolfgang Petricks Bilder schreien nicht. Der Schrei ist eben abgerissen. Die Bilder spiegeln das Entsetzen, das zurückbleibt, wenn es nach dem Schrei wieder still geworden ist“, hat der bereits verstorbene Kunstkritiker Heinz Ohff einmal sehr treffend geschrieben.
Ein verstörendes Oeuvre des Berliner Künstlers
Es ist ein von immenser Energie getriebenes, verstörendes Oeuvre, das hier präsentiert wird „Diese Ausstellung lässt den Besucher abermals etwas über sich selbst lernen als gesellschaftliches Wesen, geworfen in den Strom der Zeit zwischen ungekannten isolierenden Zwängen und sich grotesk wiederholender Geschichte“, sagt Reinking.
Am Ende des Ausstellungsganges im Erdgeschoss blicken die Besucherinnen und Besucher in eine darunter liegende ehemalige Turnhalle (die Ringe hängen noch von der Decke), die nun ebenfalls als Galerieraum dient. Zwischen schwarz glänzenden Stelen betrachtet man großformatige, bildgewaltige Arbeiten Petricks – was ungewöhnliche Sichtachsen erzeugt.
Wer das Woods Art Institute besuchen will, muss eine Führung buchen
So manches Mal hätte man sich erläuternde Bildtafeln oder die Kapitel einführende Texte gewünscht; das Konzept der WAI-Ausstellungen verzichtet aber ganz bewusst auf diese klassischen Zuschreibungen, um so zum eigenen Nachdenken und Referenzieren anzuregen. Dafür werden regelmäßig Führungen durch die Ausstellung angeboten; sie sind sogar obligat, um das WAI zu besuchen. Spannend sind auch zwei Filme über das Leben und Arbeiten des Künstlers, die ebenfalls im Untergeschoss in abgedunkelten Räumen gezeigt werden.
Beim Spazieren durch das weitläufige Gelände wirken diese Eindrücke nach. Im Park begegnen einem vereinzelt zeitgenössische Skulpturen; es sind aber eher Einsprengsel in die Landschaft als aufdringliche Hingucker, was sehr wohltuend ist nach so viel geballter künstlerischer Kraft. Neben dem Ausstellungsgebäude ist ein kleiner Kaffeegarten angelegt, in dem man sich mit Getränken und Kuchen stärken kann, an kleinen Tischen können Kinder kreativ werden. Wer weiter gehen will, macht einen Abstecher zur nahegelegen Bille oder zum Mühlenteich, wo sich das beeindruckende Schloss Reinbek anschließt. Dort werden ebenfalls wechselnde Kunstausstellungen gezeigt.
„Retrospektive Wolfgang Petrick“ Woods Art Institute (S Reinbek), Golfstraße 5, 21465 Wentorf, Termine für Führungen (15,- pro Person) buchbar über woodsartinstitute.com