Hamburg. Mitglieder der Hamburger Compagnie haben mit ukrainischen Tänzerinnen und Tänzern ein Stück entwickelt. Über die besondere Produktion.

Die Sonne lacht freundlich durch die Fenster an beiden Seiten des Tanzsaals im Ballettzentrum John Neumeier. Angekündigt ist eine öffentliche Probe. Und das ist mehr als ungewöhnlich, gewährt Hamburg Ballett-Chef John Neumeier doch selten Einblicke in hiesige Arbeitsprozesse. Aber das, was hier gleich als Probendurchlauf zu sehen ist, hat es ohnehin nie zuvor gegeben: Einige Mitglieder der Compagnie haben einen Abend gemeinsam mit einer ukrainischen Tänzerin und drei Tänzern entwickelt. Für die Präsentation von „For The Air That We Breathe“, die am Freitag und Sonnabend in den Hallen des Kooperationspartners Kampnagel zu sehen sein wird, werden noch zwei weitere aus den Niederlanden zum Ensem­ble hinzukommen.

Die Idee der Produktion ist erst wenige Wochen alt. Entstanden war sie auf einer Gastspielreise der Compagnie nach Los Angeles. Einige Tänzer des Hamburg Balletts haben Wurzeln in der Ukraine, etwa die Ersten Solisten Alexandre Riabko oder Alexandr Trusch. Riabkos Schwester gelang erst kürzlich die Flucht. Trusch wird sehr ernst, wenn er darüber spricht, dass seine Cousine drei Tage mit ihrem Kleinkind in einem Keller saß, während draußen Bomben fielen. Auch sie hat es inzwischen geschafft, herauszukommen. „Es gibt keinen Ukrainer, den es nicht direkt betrifft“, sagt er.

Kampnagel Hamburg: Kontakt zu geflüchteten Tänzern hergestellt

Als das schreckliche Elend in der Ukraine begann, hätten sich viele in der Compagnie gefragt, was eigentlich mit der Kunst in der Ukraine geschehe, erzählt Trusch. Er habe dann seinen Freund Yaroslav Ivanenko, der das Ballett Kiel leitet, angerufen und ihn gefragt, ob es Möglichkeiten gebe, Künstler aus der Ukraine herauszuholen oder Kontakt zu geflohenen Tänzerinnen und Tänzern herzustellen. Das ist nun gelungen.

Auch Alexandre Riabko und Silvia Azzoni sind dabei.
Auch Alexandre Riabko und Silvia Azzoni sind dabei. © Michael Rauhe / FUNKE Foto Services

Die Tanzenden tragen graue Röcke und robben auf Knien, bevor sie sich langsam erheben und zu einem berührenden ukrainischen Volkslied zu ausladenden Bewegungen finden. Florian Pohl wirbelt die grazile Olena Karandieieva herum und verschränkt sich mit ihr zu kunstvollen Posen. Im zweiten Teil lässt sich eine Gruppe Tänzer in schwarzen Anzügen kunstvoll fallen und rollt mit brachialer Wucht in den Vordergrund. Tänzerinnen schreiten an der Seite der Liegenden. Schwarze Papierfetzen wecken Assoziationen von Asche, Zerstörung, Verfall. Die Ohnmacht ist spürbar. Auch die Verzweiflung. Es entsteht ein Tableau von morbider Schönheit und großer Wucht.

"Im Tanz haben wir eine gemeinsame Sprache gefunden"

Es gab nur knapp zwei Wochen Probenzeit, doch der experimentelle, skizzenhafte Charakter wird eher zur Stärke des Stückes, das Ballett mit zeitgenössischen Figuren verbindet. „Es ist für die Tänzerinnen und Tänzer auch schwer, weil sie lange nicht getanzt haben. Aber im Tanz haben wir eine gemeinsame Sprache gefunden“, so Trusch.

Tänzer Alexandr Trusch hat ukrainische Wurzeln.
Tänzer Alexandr Trusch hat ukrainische Wurzeln. © Michael Rauhe / FUNKE Foto Services

Einer der Beteiligten ist Vladyslav Romashchenko. Als der Krieg begann, hatte der 1992 in Kiew geborene Tänzer des ukrainischen Nationalballetts erst mal einen Monat Stillstand. „Es gab keine Arbeit und kein Training. Das war ein komplettes Desaster. Wir wussten nicht, was wir tun sollten.“ Er floh ins italienische Ravenna, wo ihn die Anfrage des Hamburg Balletts für dieses Projekt erreichte. Seine Frau tanzt inzwischen in Paris in einer Compagnie. Die Eltern harren in Kiew aus. Ihr Haus liegt in der Nähe des durch mutmaßliche russische Kriegsgräuel zu schrecklicher Berühmtheit gelangten Ortes Butcha.

Romashchenko will mit Tanz seine Familie unterstützen

Wenn er über die Familie spricht, wird Romashchenko sehr leise. Gleichzeitig ist er sehr beseelt von der Zusammenarbeit mit dem Hamburg Ballett. „Heute ist es wie ein Traum, an diesem Projekt mitzuwirken. Ich bin sehr glücklich.“ Mit dem Tanz möchte er auch sein Land unterstützen, den Menschen die Kultur der Ukraine nahebringen. Man spürt bei allen Beteiligten, Hamburgern wie Ukrainern, einen starken Geist von Verbundenheit.

Auch John Neumeier, der während der Probe zugegen ist, steuert für die Aufführung eine Szene bei. Sein Pas de Deux „Wo die schönen Trompeten blasen“ aus „Des Knaben Wunderhorn“ verströmt mit dem grandiosen Paar aus dem Ukrainer Alexandre Riabko und Silvia Azzoni eine tief bewegende Intimität. Hier geht es eher um Akkuratesse, Verschmelzung, Schönheit in Vollendung. Das lässt ein wenig aufatmen nach den düsteren Bildern zuvor. „For The Air That We Breath“ soll ein Anfang sein, von dem aus sich irgendwann vielleicht weitere Arbeiten entwickeln und längere Arbeitsaufenthalte für die Gasttänzerinnen und -tänzer aus der Ukraine in Hamburg möglich werden.

Hamburg Ballett: "Letzte Hoffnung in der Ukraine weggefallen"

„Es ist eine Katastrophe, dass sich zwei Länder, die eigentlich Geschwister sind, im Krieg befinden. Ich bin Ukrainer, meine Großmutter ist Russin gewesen, mein Großvater Jude, die andere Seite des Großvaters stammt aus der Ukraine. Die meisten Menschen kämpfen gegen Geschwister. Man kann es nicht in Worte fassen“, sagt ein sichtlich betroffener Alexandr Trusch, den man sonst ja als eher fröhlichen Tänzer kennt. „Es ist schwer für die Menschen im Westen zu verstehen, dass die Politik im Osten anders funktioniert. Das ist gar keine Politik, es ist eine Mafia-Gesellschaft. Das macht es so schwer, politische Lösungen zu finden.“

Was ihnen allen bleibt, ist, Kraft aus der Kunst, aus dem Tanz zu schöpfen. „Als Hamburg zerbombt wurde, wurde trotzdem Theater gespielt. Eine Stadt ohne Theater ist das Schrecklichste, was es geben kann“, sagt Alexandr Trusch. „In der Ukraine sind die Theater geschlossen, und damit ist das letzte bisschen Hoffnung weggefallen. Als Tänzer steckt man alles in die Arbeit und wenn die wegbricht, ist man verloren.“

„For The Air That We Breathe“ Fr 29.4./Sa 30.4., jew. 19 Uhr (ausverkauft!). Karten gibt es noch für die Zusatzvorstellung am 30.4., 15.30, Kampnagel, Karten: www.kampnagel.de