Hamburg. Ein Gespräch mit der österreichischen Lautenistin über Spezialistentum, künstlerische Freiheiten und das Indiana-Jones-Gen.
Alte Musik, mit historisch bestens informierten Jazz-Elementen, das ist ihr Markenzeichen. Christina Pluhar hat sich mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata immer wieder auf Abenteuerreisen in die Musikgeschichte begeben. Jetzt kommt sie mit einem österlichen Programm in die Elbphilharmonie.
Hamburger Abendblatt: Nur mittelprächtig gespielter Telemann kann ganz grausam sein. Ist Alte Musik also immer nur so gut wie die, die sie aufführen?
Christina Pluhar: Das würde ich auf alle Musikstile übertragen. Schlecht gespielte Musik ist immer nicht so schön. Es ist eine Frage von Niveau und Ausbildung.
Sie sollen das Wort „Crossover“ nicht ausstehen können. Was Sie machen, könnte man so bezeichnen, weil Sie nicht nur die „reine“ Alte Musik spielen – Sie bearbeiten Sie mitunter.
Pluhar: Da muss man schon differenzieren. Ich mag es nicht, wenn man Künstler in Schubladen steckt, das ist ein Hobby von Journalisten. Ich mache Alte Musik, ich habe die entsprechende Ausbildung, und wir haben einige Projekte, in denen wir auch andere Musiksparten mit einfließen lassen – was nicht bedeutet, dass ich nur Crossover mache. Darauf reagiere ich höchst allergisch. Das ist eine Schublade, die meiner Musik keinesfalls gerecht wird.
Sie haben mit sieben mit der Gitarre begonnen und sind später auf Laute umgestiegen. Gitarre wahrscheinlich nicht wegen Jimi Hendrix, und ihr erstes großes Leidenschaftsgebiet war dann: Bach.
Pluhar: Mit sieben noch nicht unbedingt. Ich liebte damals schon die Zupfinstrumente und habe zunächst klassische Gitarre gelernt. Mit 17, 18 hatte ich die große Sinnkrise, weil ich mich schon durch die ganze klassische Literatur durchgespielt hatte. Und dann nahm mich ein Studienkollege mit auf einen Alte-Musik-Sommerkurs nach Italien, da entdeckte ich dann diese Welt für mich, das war lebensverändernd.
Eine womöglich blöde Frage muss ich unbedingt loswerden: Die Barocklaute hat einen extremlangen Hals, sie ist eigentlich eher Lange statt Laute. Wie stimmt man die? Zu zweit?
Pluhar: Sie meinen die Langhalslaute oder Theorbe, und um die zu stimmen, muss man tatsächlich aufstehen, das geht nicht im Sitzen.
In Ihrem Bereich der Musik ist nicht, wie in späteren Jahrhunderten, schon alles explizit und haargenau in den Noten vorgeschrieben. Weil das so ist, können Sie also nie etwas wirklich FALSCH machen?
Pluhar: Das kann man so nicht sagen. Es gibt ganz klare Regeln, man kann eine ganze Menge falsch machen, vor allem, weil es nicht in den Noten drinsteht. Anfang des 17. Jahrhunderts sind Instrumentierung und Aufführung den Interpreten tatsächlich sehr weitgehend überlassen. Weil die Leute damals die Regeln sehr gut kannten. Sie haben also immer die Möglichkeit, bei Begleitung das der Stimme oder auch der Akustik – oder dem Budget - anzupassen. Wenn Sie sehr farbig besetzen möchten, können sie etliche Instrumente nehmen - solange es nicht zu laut wird. Genau diese Freiheit ist ja das Schöne an der Musik. Man muss nur extrem aufpassen, dass man keinen Quatsch spielt.
Sie haben in Paris als Continuo-Spielerin angefangen und dann 2000 Ihr eigenes Ensemble L’Arpeggiata gegründet. War das einfach, weil der Markt so klein war - oder war es schwer, weil der Markt so klein war?
Pluhar: Vor der Gründung habe ich ein Jahrzehnt mit anderen Ensembles auf der ganzen Welt gespielt. Der Wunsch nach einem eigenen Ensemble wurde immer stärker, für eigenes Repertoire und eigene Ideen, vor allem auch, um Musiker einzuladen, die mir sehr am Herzen liegen. Dazu kommt die Forschungsarbeit und das Nachdenken über neue Interpretationen.
Sie haben für Ihr Ensemble neben dem Künstlerischen nach wie vor das rein Praktische am Hals – Flüge buchen, Hotels buchen, Gagen-Armdrücken mit Veranstaltern?
Pluhar: Wenn man Ensemble-Leiter ist, hat man das immer an der Backe. Gewisse Dinge kann man abgeben - aber nie an einen Punkt kommen, an dem man sagt: Ich mache nur Kunst. Ich mache das jetzt seit 22 Jahren – und davon träume ich auch seit 22 Jahren, dass mir jemand die ganze Arbeit abnimmt. Als ich L’Arpeggiata gegründet habe, war mir das so nicht bewusst…
… sonst hätten Sie es womöglich gelassen…
Pluhar: Eventuell. Im Vordergrund stand der große Wunsch, als Interpret noch kreativer zu sein. Dieser Wunsch hat sich auf jeden Fall erfüllt.
Gibt es bei der Alten Musik mit ihren Spezialisten, wo jeder jeden kennt, einen Transfermarkt oder regelrechte Abwerbeprämien, um dafür zu sorgen, dass einem dieser eine tolle Cembalist nicht gleich wieder von der Fahne geht? Wie ist das Konkurrenzdenken?
Pluhar: In der Alten Musik sind im Gegensatz zu festen Orchestern alle freiberuflich und werden je nach Termin gebucht. Das ist extrem schwierig, weil sie, wenn sie ein festes Ensemble haben möchten, nicht immer die Person buchen können, die Sie gern hätten. Es gibt keine Abwerbeprämien, wir haben ja auch keine Fußballer-Gagen. Sagen wir mal so: Es war immer mein Traum, ein so festes Ensemble wie die Beatles zu haben. Aber die haben dann auch nur zehn Jahre gehalten.
Demnächst ist hier René Jacobs zu Gast, der hat als Sänger in der Alten Musik begonnen, wechselte dann zum Dirigieren und kommt nun mit Webers romantischer Oper „Der Freischütz“, etwa 170 Jahre nach Monteverdis Tod uraufgeführt. Können Sie sich vorstellen, sich ähnlich weit von der Musik der Renaissance und des Barock zu entfernen?
Pluhar: Ich habe auch schon mehrfach Mozart dirigiert, mit L’Arpeggiata, beim Mozartfest in Würzburg. Man kann ja Musiker für dieses Repertoire dazubuchen. Bei mir kommt es auf das Repertoire und die Orchestergröße an.
Reizt es Sie nicht, zur Abwechslung vor 90, 100 Musiken zu stehen und entsprechend Gas zu geben?
Pluhar: Das habe ich schon sehr oft getan, ich dirigiere auch Opern und etwas späteres Repertoire. Wenn wir Alte-Musik-Dirigenten das machen, dann am liebsten mit Instrumenten aus der jeweiligen Zeit. Das ist unglaublich spannend und die Musik klingt völlig anders. Von hinten nach vorn zu schauen ist ganz anders als von vorn nach hinten.
Für das „Via crucis“-Konzert kurz vor Ostern in der Elbphilharmonie haben Sie handverlesenes Repertoire aufgeboten. Wie sieht das Konzept aus?
Pluhar: Ich versuche, durch die Stücke eine Geschichte zu erzählen, in diesem Fall beginnt es mit einer Verkündigungssonate. Danach verfolgen wir weiter die Passion und das geht bis zur Auferstehung.
Kann man dieses geistliche Repertoire angemessen aufführen, wenn man nicht selbst auch gläubig ist?
Pluhar: Bis ins 19. Jahrhundert gab es eigentlich nur zwei Arbeitgeber: die Adligen und die Kirche, daher ist diese Musik entweder geistlich oder weltlich, und meistens waren es Auftragswerke. Ob Sie als Künstler gläubig sind oder nicht, das ist sekundär. Es ist Teil unserer Kultur, unseres Kulturschatzes, diese Musik ist in Europa in unserer DNA. Unsere Religion als Musiker ist die Musik. Ob wir die Texte glauben oder nicht, halte ich nicht für wichtig.
Sie haben mehrfach mit Jazz- oder Folklore-Musikern zusammengearbeitet. Wie einfach – oder wie schwer? – ist es, die in Ihr Boot zu bekommen? Die Tonsprache ist ja eine ganz andere.
Pluhar: Die große Gemeinsamkeit von Alter Musik und Jazz ist das Improvisieren. Der große Unterschied sind die musikalische und die harmonische Sprache. Wir haben den Jazzer Gianluigi Trovesi das erste Mal 2003 eingeladen, es ging ums Improvisieren über ostinate Bässe, im Jazz würde man die Riffs nennen, kleine harmonische Floskeln. Musiker, die man dazu nimmt, müssen immer sehr offen sein. Für das erste Projekt habe ich Musik rausgesucht, über die man sehr gut improvisieren kann. Die harmonische Sprache blieb im 17. Jahrhundert, dazugesellt hat sich Trovesis melodische Sprache. Ich suche mir immer Musiker aus, die das können und die das wollen.
Sie waren auch an der Schola Cantorum Vasiliensis in Basel, eine Art Harvard für Alte Musik. Ging es dort womöglich sehr erbsenzählerisch zu, weil man sehr theoretisch in dieser seiner Fach-Welt unterwegs war?
Pluhar: Dieses Thema vergleiche ich gern mit anderen Kunstformen: Als Musiker sind Sie Künstler und nicht Musikwissenschaftler, auch wenn in der Alten Musik Interesse dafür vorausgesetzt ist. Das ist Teil unseres Berufs. Wir müssen diese Sprache erlernen. Dafür muss man alle Quellen und das Repertoire gut kennen, sonst versteht man diese Sprache nicht.
Was auf dem Notenpapier steht, lebt nicht, man muss das zum Leben erwecken. Solang sie das nicht können, ist es Kitsch und Quatsch. Diese Seriosität ist uns allen eine große Leidenschaft, deswegen ist diese Ausbildung, wie man sie in Basel genießen kann, kein Erbsenzählen, sondern Voraussetzung, dass Sie diese Musik spielen können.
Ihr neues Album beschäftigt sich mit neapolitanischer Volksmusik. Wie viel Vorarbeit braucht es für so ein Projekt? Haben Sie inzwischen Erfahrungswerte, an denen Sie sich immer orientieren können - oder Konzepte, mit denen Sie seit Jahren ringen und trotzdem das Ende partout nicht finden?
Pluhar: Das ist von Programm zu Programm sehr verschieden. Ich habe auch schon 20 Jahre an einem Projekt gearbeitet.
Ihr größter Schatz sei Ihre riesige Notenbibliothek, haben Sie einmal berichtet. Wie übergroß sind Ihre Bestände inzwischen?
Pluhar: Wir haben jahrzehntelang in Bibliotheken gesessen und die Notenmanuskripte mühsam aus Mikrofilmen rauskopiert, weil das die einzige Möglichkeit war, um an alte Noten zu kommen. Das hat sich in den letzten zehn Jahren extrem verändert. Heute können Sie online quasi alle Bibliotheken einsehen. Deswegen staple ich seit einigen Jahren die Manuskripte nicht mehr in meiner Wohnung.
Verspüren Sie den Ehrgeiz, wo immer Sie auch nachschlagen, unbedingt ganz bestimmte, noch unbekannte Stücke finden zu wollen? Vielleicht eine der vielen verschollenen Monteverdi-Opern, die ja doch vielleicht unentdeckt irgendwo liegen?
Pluhar: Als ich vor 25 Jahren begonnen habe, intensiv in Bibliotheken zu gehen, war es noch so, dass man ganz oft auf Meisterwerke gestoßen ist, die wirklich noch niemand in der Hand gehabt hat. Das hat sich sehr geändert. Immer mehr Ensembles spielen diese Musik, immer mehr forschen. Auf eine verschollene Monteverdi-Oper zu stoßen, die nicht im Katalog ist, ist eher unwahrscheinlich.
Ein Indiana-Jones-Gen haben Sie also nicht.
Pluhar: Ja, schon. Das Suchen ist schon sehr aufregend. Aber in Bibliotheken ist alles katalogisiert.
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Sind Sie inzwischen für das „reguläre“ Orchesterleben verdorben: Tarifvertrag, Dienstpläne, feste Urlaubszeiten… Sie sind selbstausbeutend unterwegs und könnten auch nicht mehr anders?
Pluhar: 2019 habe ich das Heidelberger Sinfonieorchester für eine Barockoper in Schwetzingen dirigiert, da habe ich diese Welt etwas kennengelernt. Vor Orchestermusikern, die Unglaubliches leisten, weil sie so viel Verschiedenes machen, habe ich allergrößten Respekt. Aber wenn sie mit so einem Orchester arbeiten, ist die ständig wechselnde Besetzung problematisch – sie proben mit der einen, das Konzert ist mit einer anderen. Da kommen Sie schnell an die Grenzen dessen, was stilistisch realisierbar ist.
Konzert: 13. Apri „Via crucis“. Werke von Merula, Monteverdi, J. C. Bach u.a. L’Arpeggiata, Christina Pluhar. www.elbphilharmonie.de
Aktuelle Aufnahme: „Alla Napoletana“ Tarantellas, Folias, Kantaten, Arien und Canzone napoletane aus dem 17. Jh. (Erato, 2 CDs ca. 17 Euro)