Hamburg. Die Galerie der Gegenwart zeigt eine sehr sehenswerte Retrospektive über den bedeutenden und vielseitigen Avantgarde-Künstler.

Es ist ein ganz besonderer Moment in einer Ausstellung, wenn einen Bilder förmlich hineinziehen mit ihrer Magie, ihrer Rätselhaftigkeit, ihrer Sinnhaftigkeit. Ernst Wilhelm Nay (1902–1968) ist so ein Maler, der dies vermag – und zwar, das ist ebenso außergewöhnlich – in all seinen sehr unterschiedlichen Schaffensphasen.

1902 in Berlin geboren, aufgewachsen und an der Hochschule für Bildende Künste ausgebildet, erlebte er beide Weltkriege, einen davon als Frontsoldat. Er war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ein angesehener Maler, den das Schicksal vieler Kolleginnen und Kollegen ereilte, von den Nationalsozialisten verfemt zu werden.

Ausstellung Hamburg: Nay stellte mehrmals aus

Doch vom künstlerischen Arbeiten ließ er nicht ab, stellte 1947 gleich mehrmals aus, war auf der documenta und einigen Biennalen in Venedig vertreten, erhielt 1955 den Lichtwark-Preis der Stadt Hamburg, kurz: Er brachte als erster Künstler Deutschland wieder auf die Bühne der modernen Kunst zurück und machte eine internationale Karriere. Und doch kennen ihn nur wenige, lediglich Insidern ist er ein Begriff.

Ernst Wilhelm Nay: „Frau mit Tieren“, 1939 Öl auf Leinwand, 109 × 87 cm.
Ernst Wilhelm Nay: „Frau mit Tieren“, 1939 Öl auf Leinwand, 109 × 87 cm. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Ernst Wilhelm Nay Stiftung / Ketterer Kunst GmbH & Co. KG, München Foto: Marc Autenrieth

Das soll sich mit der großen Retro­spektive in der Galerie der Gegenwart nun ändern. Gleich zu Beginn von Alexander Klars Amtszeit als Direktor schlug Karin Schick eine Nay-Ausstellung vor. Nichts weniger als das Werk von Anfang bis Ende zu beleuchten hatte sich die Leiterin der Sammlung Moderne Kunst vorgenommen, um den Maler einer jüngeren Generation bekannt zu machen und Kennern bisher verborgene Details aus dem Werk zu zeigen.

Nays interessierte sich für das Dasein in der Natur

Chronologisch aufgebaut, entfaltet die Ausstellung anhand von 120 Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen Nays Schaffen in fünf Kapiteln. Die frühen Bilder waren sehr geprägt durch französische Künstler wie Henri Matisse. Ab 1932 erwachte Nays Interesse für das menschliche Dasein in Natur und Welt; erste, sehr flächige Tierbilder entstanden wie etwa „Elchkopf“ (1933), das schon durch vereinfachte und doch so sprachgewaltige Darstellung beeindruckt.

Eine Reise an die Ostsee 1935 inspirierte ihn zu Dünen- und Fischerbildern, darunter eins von sieben Gemälden, die im Besitz der Kunsthalle sind: „Große Ausfahrt in Weiß“ aus dem Jahr 1935. Landschaft, Schiffe und Menschen sind scherenschnittartig gemalt. Dazu wird Nay in der Ausstellung wie folgt zitiert: „Die großen dynamischen Schwünge der Landschaft, ihre elementare Kraft brachten zum ersten Mal das Thema meiner Kunst hervor, die Dynamik und das Elementare.“

Ernst Wilhelm Nay wurde in Polen stationiert

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten bedeutete für den Künstler zeitweiliges Berufsverbot. Durch die Unterstützung des Lübecker Museumsdirektors Carl Georg Heise und des Malers Edvard Munch konnte Nay 1937 zu den norwegischen Lofoten-Inseln reisen, wo er mehr denn je die Verflechtung von Mensch und Natur erlebte; in seinen dort entstandenen Arbeiten geht der Mensch ganz in der ihn umgebenen Umwelt auf.

Ernst Wilhelm Nay: „Symphonie in Weiß“, 1955, Öl auf Leinwand.
Ernst Wilhelm Nay: „Symphonie in Weiß“, 1955, Öl auf Leinwand. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Ernst Wilhelm Nay Stiftung Foto: farbanalyse, Köln

Im Dezember 1939 begann für Ernst Wilhelm Nay der Kriegsdienst. Als Soldat zunächst in Polen und Südfrankreich stationiert, konnte er nur selten künstlerisch arbeiten. Erst als Kartenzeichner in Le Mans gewann er wieder mehr Freiheit. Er knüpfte Kontakte zu deutschen und französischen Intellektuellen, darunter auch zu dem Künstler Pierre Térouanne, der ihm Atelier, Bibliothek und Garten zum Arbeiten überließ.

Er brach die Körper in Einzelteile auf

Gemälde mit üppigen Landschaften und einander zugewandten Figuren entstanden, die so gar nicht zum Kriegsgeschehen passen wollten: „Paar mit Schmetterlingen“ (1939), „Apfelernte“ (1940) oder „Der Garten des Herrn Térouanne“ (1943) – „es kamen glückhafte Malereien zutage, fern aller Tages- und Kriegsfragen und doch nicht idyllisch“, so Nay. Inspiriert durch Picassos Kubismus brach er die Körper in ihre Einzelteile auf und setzte sie auf der Fläche neu zusammen. Im Mai 1945 wurde der Maler aus der Armee entlassen.

Auf Einladung der Kunsthändlerin Hanna Becker zog er sich nach Hofheim im Taunus zurück. In der Auseinandersetzung mit Zerstörung und Neubeginn kamen mythologische und biblische Themen in sein Werk; seine sogenannten Hekate-Bilder (benannt nach der Göttin der Magie) bescherten Nay großen künstlerischen Erfolg in Deutschland. In „Die Quelle“ von 1947 lässt sich die Entwicklung vom figürlichen zum abstrakten Arbeiten ablesen.

Ab 1949 veränderte er seine Technik

Ernst Wilhelm Nay (1902–1968) bei der Arbeit, 1964.
Ernst Wilhelm Nay (1902–1968) bei der Arbeit, 1964. © Barbara Deller-Leppert / Fotoarchiv Ernst Wilhelm Nay Stiftung

Ab 1949 änderte der Maler wiederum seine Technik und schuf nun seine berühmten „Fugalen Bilder“, inspiriert durch die Rhythmik und Dynamik moderner Musik, die er durch Verschleife, Wiederholen und Umkehren von leuchtenden Farbflächen auf der Leinwand umsetzte. Seine ersten wirklich abstrakten Arbeiten entstanden nach 1951 mit Nays Umzug nach Köln.

In ihnen spiegeln sich Nays systemisches Vorgehen einerseits, andererseits zeugen sie von Intuition, Magie und Spiritualität. Die „Scheibenbilder“, die Nay mit der Leinwand am Boden malte, sind der Höhepunkt seines Spätwerks: Kosmisch, wie aus Zeit und Raum gefallen, scheint etwa „Symphonie in Weiß“ (1955).

Ausstellung Hamburg: einzigartige, meditative Bilder

„Die Wertschätzung Nays, aber auch die bereits in den 1960er-Jahren einsetzende Ablehnung seiner Kunst durch eine nachfolgende Generation Kunstschaffender resultierte nicht zuletzt aus einer verkürzten Sicht auf sein Oeuvre“, so Karin Schick. Persönlich hat ihn diese Abkehr wohl sehr getroffen, es wurde still um den Mann, für den Kontakt und Kommunikation so wichtig waren.

In seinen drei letzten Lebensjahren bereiste Ernst Wilhelm Nay die Welt, es entstanden eigenartige, fast meditative Bilder zwischen Stille und Exzess in großen Formaten: „Nachtblau“ (1965), „Schwarze Kette Grün zu Rot“ (1966), „Gelb-Rosa“ (1967). Dazu der Maler: „Der Mensch tritt nie deutlicher zutage als in der freisten Erfindung der Abstraktion.“ Und so ist es auch mit dieser wunderbaren Ausstellung: In ihr ist der Mensch und Künstler Ernst Wilhelm Nay in Gänze zu entdecken.

„Ernst Wilhelm Nay. Retrospektive“ bis 7.8., Galerie der Gegenwart (U/S Hauptbahnhof), Glockengießerwall 5, Di–So 10.00–18.00, Do 10.00–21.00, Eintritt 14,-/8,- (erm.)