Hamburg. Diskussionen, Lesungen und Stimmen direkt aus dem Kriegsgebiet an einem Abend, der die Herzen bluten und manch Frage offen lässt.
„Ich würde uns gerne einen guten Abend wünschen“, begrüßt Heinrich Wefing, Politikredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“, das Publikum im vollbesetzten Hamburger Schauspielhaus. „Aber wir wissen, dass das kein guter Abend ist.“ Es herrscht Krieg in Europa, und die Kunst versucht, sich irgendwie dazu zu verhalten, dass die russische Armee vor über einer Woche das Nachbarland Ukraine überfallen hat. Nachdem das Thalia Theater vergangenen Donnerstag einen Lesungsabend zum Krieg veranstaltete, zieht jetzt das Schauspielhaus nach: spröder als an der Nachbarbühne, auch politischer.
Im Zentrum steht eine von Wefing moderierte Diskussionsrunde, mit Sabine Fischer vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit, der auf den postsowjetischen Raum spezialisierten „Zeit“-Autorin Alice Bota, dem ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch sowie seinem belarussischen Kollegen Viktor Martinowitsch.
#StandWithUkraine: Schauspielhaus bekennt Farbe
Ausgewogenheit der Argumente wird nicht angestrebt: Russische Stimmen kommen nicht zur Sprache, es bleibt die Aufgabe der Gesprächsteilnehmer, darauf hinzuweisen, dass nicht „Russland“ der Aggressor sei, sondern ein autokratisches Regime um den russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Das Schauspielhaus bekennt mit der Veranstaltung Farbe, und die Farben des Abends sind eindeutig blau-gelb: Nicht nur der Bühnenhintergrund ist in den ukrainischen Landesfarben gestaltet, zum Abschluss wird auch noch eine Fahne über die Bühne getragen, und der Titel des Abends, „#StandWithUkraine“, zeigt eindeutig, wo man steht. „Freiheit, Menschenrechte, gegenseitiger Respekt überwinden das Recht des Stärkeren!“ hofft Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier in ihrer einleitenden Rede, und, wer weiß, vielleicht hat sie ja recht. Zumindest der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegenüber der übermächtigen russischen Armee gibt Anlass zur Zuversicht.
„Keine Angst vor Putin, bitte!"
Dass die russische Führung keine Zukunft habe, beschreibt auch Andruchowytsch, per Videokonferenz aus seiner westukrainischen, bislang von Kämpfen verschonten Heimatstadt Iwano-Frankiwsk zugeschaltet. „Keine Angst vor Putin, bitte! Der ist schon am Ende seiner Karriere!“ Worauf der Schriftsteller eine ganz konkrete Forderung an den Westen und insbesondere die Bundesrepublik formuliert: „Gastfreundlichkeit, Wärme und unterstützende Worte sind sehr wichtig, aber wir brauchen Furchtlosigkeit von Deutschland.“ Heißt: Andruchowytsch wünscht sich, dass der Westen eine Flugverbotszone über der Ukraine einrichtet, eine Forderung, der sich auch sein belarussischer Kollege Martinowitsch anschließt.
Dem widerspricht Osteuropaexpertin Fischer. Eine Flugverbotszone einzurichten, das sei einfach, aber diese durchzusetzen, sei etwas anderes: Dann wäre die NATO nämlich mit einem Schlag Kriegspartei, was bedeuten würde, dass sich der lokal begrenzte Konflikt zu einem Weltkrieg ausweiten würde. „Mir bricht bei dieser Diskussion das Herz!“, schließt sie emotional, aber: Putin stehe mit dem Rücken zur Wand, das mache ihn zu einem extrem gefährlichen Akteur.
„Putin kämpft gegen den Westen"
Wobei Andruchowytsch dieses Argument nicht gelten lässt: „Die Konfrontation zwischen NATO und Russland ist unvermeidlich, weil Putin diese Konfrontation sucht.“ Und Martinowitsch stimmt ihm zu: „Putin kämpft nicht gegen die Ukraine, er kämpft gegen den Westen.“ Ein pessimistisches Fazit der Diskussion.
Eines, von dem aus man nur schwer in den künstlerischen Teil des Abends übergehen kann. Aber man ist am Schauspielhaus, und die Kunst ist das eigentliche Metier des Ensembles. Also lesen Yorck Dippe, Jonas Hien, Bettina Stucky, Michael Weber und Julia Wieninger aus Texten Andruchowytschs, ein wildes Satz-Pingpong zwischen den einzelnen Schauspielern, das ein ästhetisch interessantes Sprachkonzert ergibt. Daniel Hoevels und Michael Wittenborn performen eine schon halb inszenierte Lesung aus Martinowitschs „Revolution“ (das im Mai unter der Leitung von Dusan David Parizek auf die Schauspielhaus-Bühne kommen soll).
Statements von jungen Ukrainern werden vorgelesen
Sasha Rau und Josef Ostendorf übernehmen unterschiedliche Passagen aus Serhij Zadans „Antenne“, Paul Behren das tagesaktuelle „Nie habe ich so viel Liebe gesehen“ von Bachmannpreisträgerin Katja Petrowskaja und Sandra Gerling Marina Weisbands „Die Welt hat die Ukrainer kennengelernt. Jetzt müssen sie nur noch überleben.“ Dazwischen gibt es musikalische Improvisationen von Klarinettist Vlatko Kucan und Perkussionist Mark Nauseef, so sperrig wie die Realität.
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Und dann liest das Ensemble noch kurze Statements von jungen Ukrainern, desillusionierten Menschen, die so traurig wie selbstbewusst aus Sina Opalkas Fotos in den Saal blicken. „Ich plane bald, mich freiwillig zu melden“, wird die 19-jährige Daka zitiert, Alina (22) konstatiert schlicht „Ich habe Angst“, und Kit berichtet, wie er sich andauernd theoretische Evakuierungspläne ausdenkt.
Theater Hamburg: Veranstaltung lässt die Herzen bluten
Der 19-Jährige stammt ursprünglich von der Krim, nachdem Russland 2014 die Halbinsel eingenommen hatte, erfuhr er am eigenen Leib, wie die anti-ukrainische Propaganda in die Schulen einsickerte. Spätestens jetzt bluten wohl alle Herzen im Schauspielhaus.
Wenigstens sind blutende Herzen nicht die schlechteste Motivation für eine Benefizveranstaltung. Im Laufe des knapp dreistündigen Abends kommen 6950 Euro Spenden für die Hilfsorganisation Hanseatic Help zusammen.