Hamburg. „Ihr wärmt eure Sessel ohne Grund“: Kidjo fordert das eher zurückhaltende Publikum bei ihrem Elbphilharmonie-Konzert zum Tanzen auf.

Zunächst ist ihr Gesang zu hören. Tief aus dem Inneren. Erdig und strahlend. Dann tritt Angélique Kidjo ins Rampenlicht und dreht sich schwungvoll im Kreis. Ihr rot gebatiktes Kleid bauscht sich auf. Die Musikerin nimmt Raum ein. Sie ist Klang und Körper. Vor allem aber repräsentiert sie eines: Haltung.

Die große Stimme Afrikas ist in die Elbphilharmonie gekommen, um ihr 2021 erschienenes Album „Mother Nature“ zu zelebrieren. Ihren Liebesbrief an die Vielfalt der Welt. Ihren umjubelten Auftritt beginnt die 61-Jährige allerdings mit einem Cover des Talking-Heads-Songs „Crosseyed And Painless“.

Elbphilharmonie: Grammy-Gewinnerin Angélique Kidjo macht Mut

Mit Zeilen, die gerade in diesen Tagen eine schmerzliche Aktualität entfalten: „Facts are lazy and facts are late / Facts all come with points of view“. Welche Fakten sind die richtigen? Worauf lässt sich vertrauen? Fest steht: Gut anderthalb Stunden mit Angélique Kidjo helfen immens, den Glauben an die Menschheit zurückzugewinnen. An die Kraft der Kultur. An das Streben nach Gutem.

Viermal ist die Musikerin für ihren einnehmenden Mix aus Afrobeat, Pop, R’n’B, Jazz sowie Klängen von der Karibik bis nach Lateinamerika bereits mit dem Grammy ausgezeichnet worden. Dreimal ist sie aktuell für die begehrte Musiktrophäe nominiert. Ihre Reichweite nutzt die in Benin geborene Angélique Kidjo, um den afrikanischen Kontinent als positiven Motor für globale Veränderungen zu feiern.

Die anderen müssen blind sein, um nicht zu sehen, wie besonders du bist – das ist die Aussage ihres Songs „Africa, One Of A Kind“. Unterstützt vom akzentuierten Spiel ihrer vierköpfigen Band lässt Angélique Kidjo ihre Stimme satt in den Großen Saal aufsteigen. Dieser hoch rhythmische Sound ist eigentlich keine Sitzmusik. Und so beginnen vereinzelt Gäste in den Reihen und auf den Emporen zu tanzen. Manche versunken hin und her wippend. Andere mit ausladenden Bewegungen.

Angélique Kidjo fordert Elbphilharmonie-Publikum auf, aktiv zu werden

Angélique Kidjo wirft beherzt ihr Kopftuch zur Seite und begrüßt nach dem musikalischen Warm-up ihr Publikum in einem Mix aus Englisch und Deutsch. Sie müsse wohl häufiger nach Hamburg kommen, um die Sprache zu lernen. Viel Applaus. Es ist definitiv eine Bereicherung, eine derart inspirierende Persönlichkeit live zu erleben. In den Jahrzehnten ihrer Karriere ist Angélique Kidjo eine Suchende geblieben. Für ihr neues Album habe sie mit jungen Musikerinnen und Musikerin zusammengearbeitet, erzählt sie. Und auch an diesem Konzertabend fordert sie dazu auf, neugierig zu sein. Und aktiv zu werden.

Ihre klare Botschaft: Wenn du in einer besseren Welt leben möchtest, musst du dafür arbeiten. Dazu passend stimmt sie ihre Nummer „Do Yourself“ an, in der sie Englisch mit den westafrikanischen Sprachen Fon und Yoruba mischt. Ihr impulsiver Gesang ist stets begleitet von Tanz. Mal minimal geschmeidig. Als nehme sie jeden Beat seismographisch auf. Mal wuchtig und zackig. Als wolle sie die Töne mit einem extra Kick auf den Weg schicken.

Angélique Kidjo verbeugt sich mit Liedern vor Celia Cruz

Besonders flink huscht sie ihn ihren Stiefeletten übers Parkett, als sie sich musikalisch vor der Salsa-Königin Celia Cruz verneigt und deren Lied „Bemba Colorá“ interpretiert. Ergreifend wiederum ihre Version des Cruz-Klassikers „Sahara“. Dunkel driftet die Musik. Und Angélique Kidjo singt derart sehnsuchtsvoll und melancholisch, als rufe sie über eine weite Landschaft in die Nacht hinein. Ein trauriges und zugleich ungemein tröstendes Stück.

Derart durchlässig gemacht, legt die Sängerin den Finger noch tiefer in die Wunde. „Dignity“ sei vor dem Hintergrund der Polizeigewalt in Lagos im Jahr 2020 entstanden, erzählt sie. Damals seien junge Frauen aus Protest auf die Straße gegangen. Für Angélique Kidjo eine Inspiration. Auf ihrem Album „Mother Nature“ intoniert sie diesen passionierten Song gemeinsam mit der nigerianischen Afropop-Sängerin und Aktivistin Yemi Alade. Ein Plädoyer dafür, friedvoll an der Würde festzuhalten.

Ab und an hebt Angélique Kidjo mahnend die Hand. Doch da ist keine Härte in ihrem Vortrag. Sie setzt auf das Fließende. Auf die Wirkmacht der Worte und die Dynamik des Grooves. Immer wieder fordert sie die Menschen im Saal zum Mitklatschen und vor allem zum Tanzen auf. „Ihr wärmt eure Sessel ohne Grund“, sagt sie lachend.

Elbphilharmonie: Pandemie verhindert Massentanz wie beim Konzert 2018

Eine Szene wie bei ihrem Elbphilharmonie-Auftritt 2018, als euphorisierte Fans auf die Bühne eilten, scheint mit gut zwei Jahren Pandemie in den Knochen nicht möglich. Doch immerhin gesellt sich kurz eine enthusiastische Frau in knallig orangem Kleid zu ihr und gemeinsam legen sie eine Tanzeinlage hin.

Das Konzert der Weltbürgerin Kidjo, die nach Frankreich emigrierte und mittlerweile in New York lebt, ist ein Wechselbad der Gefühle und Gedanken. Pure Lebensfreude folgt auf politische Statements. Im Jahr 2020 trat sie in der Carnegie Hall auf, um das 60. Jubiläum der afrikanischen Unabhängigkeit zu begehen, erzählt Angélique Kidjo. Aber sie betont: „Solange unsere Anführer korrupt sind, sind wir nicht unabhängig“. Dennoch lässt sie es sich nicht nehmen, mit „One Africa“ einen beschwingten „Indépendence Cha-Cha“ zu tanzen. Danach nippt sie kurz an ihrem Wasser, tupft sich ein wenig die Stirn ab und scheint ansonsten eher unbeeindruckt von der Verausgabung.

Mit dem starken Titelsong „Mother Nature“ zeigt sie sich ebenfalls als seelenvolle Aufklärerin. Und zum großen Finale mit Songs wie „Mama Africa“ und Miriam Makebas „Pata Pata“ reißt es die Menge dann doch endlich von den Sitzen. Sichtlich zum Vergnügen der Sängerin. Immer wieder führt sie die Hand vom Herzen in Richtung Publikum und ruft: „Danke, dass ihr mir Energie gebt!“ Der heftige Applaus zeigt: Diese Liebe ist gegenseitig.