Hamburg. Im Kinofilm „Petite Maman“ geht es um die Geschichte eines schweren Verlustes und welche Wege Kinder finden, damit umzugehen.
Es ist eine Szene, die so unmittelbar ans Herz geht, dass man am liebsten laut aufschluchzen würde. Die achtjährige Nelly (Joséphine Sanz) hat einen Tag lang ihre Mutter Marion (Nina Meurisse) dabei begleitet, wie sie die Hinterlassenschaften der verstorbenen Großmutter geordnet hat. Im Pflegeheim waren noch ein paar Dinge abzuholen, nun muss das Haus ausgeräumt werden.
Nelly hat nach der Hütte im Wald gefragt, die sich Marion als Kind gebaut hat, und ist tagsüber ein bisschen durch die Gegend gestreift. Nun hat die trauernde Marion die Tochter ins Bett gebracht, aber Nelly steht noch einmal auf und legt sich zur Mutter ins Bett. Sie sei auch traurig, sagt Nelly. Sie hätte sich gern verabschiedet, sie wusste ja nicht, dass die Großmutter gehen würde. Man wisse das eben nicht, antwortet Marion. Was sie denn gesagt hätte? „Au revoir“, sagt das Kind.
Kinotipp: „Petite Maman“ trifft unmittelbar ins Herz
Die französische Drehbuchautorin und Regisseurin Céline Sciamma, Jahrgang 1978, kann auf eine erstaunliche Karriere zurückblicken. Schon ihr Debüt „Water Lilies“ (2007) wurde zu den Filmfestspielen von Cannes eingeladen und war international erfolgreich. 2017 wurde sie aufgrund ihrer Drehbücher in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences aufgenommen und entscheidet über die Oscars mit. Ihr vierter Spielfilm, „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, begeisterte vor drei Jahren die Kritik und brachte ihr unter anderem den Europäischen Filmpreis ein.
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In „Petite Maman“ schafft sie es sehr behutsam und ohne viele Worte, Elemente des Fantastischen mit der Geschichte eines schweren Verlustes zusammenzubringen. Marion verschwindet plötzlich, und Nelly spielt allein im Wald, während der Vater weiterhin mit dem Ausräumen der Wohnung beschäftigt ist. Sie trifft ein Mädchen, das wie ihre Mutter auf den Namen Marion hört und Nelly so ähnlich sieht wie ein Zwilling (und tatsächlich auch von Joséphine Sanz’ Zwillingsschwester Gabrielle gespielt wird).
Kino: Das Unplausibelste glaubhaft machen
Die beiden freunden sich an und wollen an der Hütte weiterarbeiten, werden aber von einem Regenguss überrascht. Sie gehen zu Marion nach Hause, ziehen sich trockene Sachen an und trinken einen Kakao. Marion erzählt, ihr stehe eine Operation bevor, die verhindern soll, dass sie die Krankheit ihrer Mutter erleidet – und irgendwann wird es klar: Nelly sitzt hier nicht mit einer Zufallsbekanntschaft aus der Nachbarschaft beisammen. Sie ist in der Zeit zurückgereist und hat ihre eigene Mutter getroffen, und die bereits erkrankte Großmutter liegt nebenan.
Das klingt als Plot einigermaßen verwegen – aber das ist ja das große Wunder am Kino, dass es selbst das Unplausibelste glaubhaft machen und darin wunderschöne Momente finden kann. Sciamma schafft es auf dem Weg der Gesten, der kurzen Berührungen und Aufmerksamkeiten, die im Alltag gern für selbstverständlich gehalten und schnell vergessen werden. Rückt man sie wie hier ins Bild – eine herübergereichte Safttüte, ein Arm auf der Schulter, das Betrachten eines gemeinsam errichteten Unterschlupfes –, dann werden sie zu Zeugnissen der Liebe, sie stiften Sinn.
„Petite Maman“: Zwischen Trauer und Freude
Das ist das eine. Das andere, was „Petite Maman“ zum vielleicht schönsten Film des Frühjahrs macht, sind Joséphine und Gabrielle Sanz, die Darstellerinnen der beiden achtjährigen Mädchen. Wie sie in ihrer unbeschädigten Kinderwelt, in der ein Tag für Abenteuer da und der Tod eine abstrakte Größe ist, mit den letzten Tatsachen konfrontiert werden, wie sie mit der gleichen Ernsthaftigkeit darauf reagieren wie auf die Herausforderung des gemeinsamen Spielens: Das kennt man von Kindern, vielleicht sogar von seinen eigenen, man hat es aber noch nie so ergreifend auf der Leinwand gesehen.
Ein zwischen Trauer und Freude schillernder, großer Film.
„Petite Maman“ 73 Minuten, ohne Altersbeschränkung, läuft im Abaton, Studio, Zeise