Hamburg. Nanni Morettis Film „Drei Etagen“, das jetzt in den Kinos läuft, erzählt von toxischer Männlichkeit und zerrütteten Familien.

Sie sind uns nah. Und doch so fern. Wir wohnen Tür an Tür mit ihnen. Und wissen doch kaum etwas über sie. Gerade in der Anonymität der Großstadt sind Nachbarn unsere nächsten und engsten Fremden. Im besten Fall kommt man gut miteinander aus, plauscht auch mal mit ihnen oder nimmt Pakete für sie entgegen. Im schlimmsten Fall muss man sie ertragen und geht ihnen so gut wie möglich aus dem Weg. Von dem wundersamen Nebeneinander erzählt Nanni Moretti in seinem Nachbarschaftsdrama „Drei Etagen“.

Dabei wird der Schutzwall der eigenen vier Wände gleich zu Beginn brutalstmöglich eingerissen. Andrea (Alessandro Sperduti), der 17-jährige Sohn des Richters Vittorio (Moretti selbst), der im zweiten Stock lebt, rast in das Schreibstudio, das sich Lucio (Riccardo Scamarcio) aus dem ersten Stock im Erdgeschoss eingerichtet hat. Zuvor ist der betrunkene Andrea gerade noch der hochschwangeren Monica (Alba Rohrwacher) aus dem dritten Stock ausgewichen, die auf dem Weg zur Entbindung war, hat aber dafür eine Passantin totgefahren. Da steht das Auto nun, zwischen lauter Trümmern, im Arbeitszimmer. Und die kleine Tochter von Lucio steht ungläubig davor.

Neu im Kino: Das Nachbarschaftsdrama „Drei Etagen“

Aber bringt diese Katastrophe die Bewohner des Mehrfamilienhauses in Rom einander näher? Oder auseinander? Nein, weder noch. Das Autowrack wird abgeschleppt, die Mauer wieder gerichtet. Und alle leben ihre Leben weiter. Wobei sich ganz andere Dramen entspinnen. Im zweiten Stock hat Richter Vittorio genug von seinem Problemsohn, der keinerlei Reue zeigt und den Vater nur bittet, er möge seine Verbindungen spielen lassen, damit er nicht ins Gefängnis muss. Nein, Vittorio will seinem Spross nicht helfen, er will, dass er bestraft wird. Später will er die Verbindung zu ihm sogar ganz kappen. Und macht seiner Frau Dora (Margherita Buy) unmissverständlich klar, wenn sie weiter zu Andrea hält, werde er sich auch von ihr trennen. Eine grausame Wahl für eine liebende Mutter und Gattin.

Im dritten Stock kann sich Monica (Alba Rohrwacher) nicht recht über ihr Baby freuen, weil ihr Mann Giorgio (Adria­no Giannini) weit weg arbeitet und nur selten nach Hause kommt. Sie fühlt sich allein und kann sich doch ihren Nachbarn nicht anvertrauten. Sie durchlebt eine postnatale Depression. Vielleicht auch mehr. Denn ihre Mutter leidet unter Wahnvorstellungen und lebt deshalb in der Psychiatrie. Und auch Monica beginnt Dinge zu sehen, die es nicht gibt.

Drastische Studien über toxische Männlichkeit

Eine Art Nachbarskrieg bricht allerdings im ersten Stock aus. Lucio und seine Frau Sara (Elena Lietti) lassen ihre siebenjährige Tochter gern bei dem alten Ehepaar, das direkt gegenüber wohnt. Auch wenn die Tochter einmal meint, der greise Mann sei „verwirrt“. Eines Tages dann ist der Alte mit der Kleinen verschwunden, sie werden erst nachts in einem Park gefunden. Statt Mitleid mit dem Dementen zu haben, steigert sich Vittorio in den Wahn hinein, der Mann könne sich an seiner Tochter vergangen haben. Er bedrängt ihn noch im Krankenhaus, würgt ihn gar. Und als dessen 17-jährige Enkelin zu Besuch kommt, macht Vittorio sich schamlos an sie heran, um so Informationen zu bekommen, die seine These stützen könnten.

Drei Etagen, drei Dramen, die da gleichzeitig ablaufen, ohne dass die anderen Parteien davon Wind bekämen. Bis der Alte eines Tages stirbt und alle Nachbarn zur Beerdigung kommen. Da herrscht die Witwe Vittorio vor allen an, dass er mit ihrer minderjährigen Enkelin geschlafen hat. Wovon Vittorios Frau keine Ahnung hat.

Es sind dies auch drei drastische Studien über toxische Männlichkeit. Hier ein toxischer Sohn, der keinerlei Empathie und kein Verantwortungsbewusstsein zeigt und seine Eltern für alle Fehler verantwortlich macht. Da ein toxischer Vater, der sich in einen Wahn steigert und mit seinen haltlosen Vorwürfen gleich zwei Familien zerrüttet. Und dort ein toxischer Gatte, der durch Abwesenheit glänzt, seine Frau allein lässt, und, wenn er dann doch mal vorbeischaut, vor allem klarstellt, was die junge Frau gefälligst zu lassen hat.

Zeitsprünge zeigen, wie sich Gräben vertiefen

Moretti lässt diese Trilogie dysfunktionaler Familien kunstvoll nebeneinanderherlaufen. Und ordnet sie zugleich wie in einem Bühnendrama in drei Akte. Indem er gleich zwei Zeitsprünge um jeweils fünf Jahre macht. Um so zu zeigen, wie die Gräben sich im Lauf der Zeit vertiefen, wie Wunden vernarben, aber auch immer wieder aufreißen können.

Moretti, der spätestens seit Filmen wie „Liebes Tagebuch ...“ (1993) und „Das Zimmer meines Sohnes“ (2001) zu den wichtigsten Filmemachern Italiens zählt und dabei auch immer selbst zen­trale Rollen in seinen Filmen spielt, hat hier erstmals kein eigenes Drehbuch verfilmt, sondern den Roman „Über uns“ des israelischen Schriftstellers Eshkol Nevo adaptiert. Und doch muss man thematisch natürlich an „Das Zimmer meines Sohnes“ denken. Oder auch an Morettis allerersten Film, „Die Nichtstuer“, mit dem er 1978 gleich zum Star wurde. Darin erzählte er von einer Gruppe junger Intellektueller in Rom, denen ein wirkliches Ziel im Leben fehlt. „Drei Etagen“, der im Vorjahr in Cannes uraufgeführt wurde, ist eine Art Spiegelung, nun in gesetzteren Familien, deren Ziele und Harmonie zunehmend aus den Fugen geraten. Und die doch unfähig sind, das Leid an der nächsten Haustür auch nur zu erahnen, geschweige denn sich gegenseitig zu helfen.

„Drei Etagen“: Junge Frauen machen Hoffnung

Dabei sind es die Männer, die hier stur ihre übersteigerten Vorstellungen und veralteten Geschlechterrollen durchsetzen. Und nicht alle Frauen wissen sich dagegen so resolut zur Wehr zu setzen wie Sara in der ersten Etage. Die Richtersfrau im zweiten Stock vereist innerlich, und die junge Mutter im dritten verliert sich ganz. Deren Mann immerhin macht eine Wandlung durch. Und wo die ältere Generation versagt, da machen zumindest die jungen Frauen, die man hier durch die Zeitsprünge heranwachsen sieht, Hoffnung, dass sie es einmal anders machen werden. Und den Nachbarn nicht mehr so fern sind.

„Drei Etagen“ 121 Minuten, ab 12 Jahren läuft im Filmraum, Koralle, Passage