Niedersachsen. „Retroperspektive, oder wie man das nennt“ vereint erstmals rund 300 Werke des Hamburger Satirikers und Malers im Kunsthaus Stade.

Vergessene Künstler gibt es viele, versessene auch. Heino Jaeger war beides. „Heino wer?“, mag sich mancher fragen. Prominente deutsche Humorschaffende wissen Bescheid. Für sie ist der Anfang 1938 in Hamburg-Harburg geborene Heino Jaeger bis heute einer der kreativsten Satiriker der späten 60er- und 70er-Jahre. „Mein Idol“ nennt ihn der mehrfache Grimme-Preisträger Olli Dittrich („Ohne Jaeger hätte es ,Dittsche’ nicht gegeben“); auch Helge Schneider und Bestsellerautor Heinz Strunk verehrten Jaeger. Mit seinen parodistischen ARD-Hörfunkreihen „Fragen Sie Dr. Jaeger“ und „Das aktuelle Jaegermagazin“ war der Anarcho-Humorist vor fast fünf Jahrzehnten ein Vorreiter der deutschen Comedy-Welle.

Nachdem ihn Strunks Kompagnon Rocko Schamoni im Vorjahr in „Der Jaeger und sein Meister“ in einem Roman rund um sein Hamburger (Künstler-)Leben gewürdigt hat, ist in diesem Frühjahr das noch erhaltene Bildwerk Jaegers erstmals umfassend zu sehen - 25 Jahre nach seinem Tod. Denn ursprünglich war Jaeger, der 1997 nach langer Leidenszeit verarmt in einem sozialpsychiatrischen Pflegeheim in Bad Oldesloe starb, kein Radio- und Bühnenkomiker, sondern Maler, Grafiker und Zeichner. Mithin also ein Gesamtkünstler.

Kunst von Heino Jaeger: Ausstellung in Stade

„Retroperspektive, oder wie man das nennt“, lautet der Titel der neuen Ausstellung im Kunsthaus Stade, entliehen einem Original-Jaeger-Zitat. In dem hatte sich der Satiriker über den Kunstbetrieb und den Begriff „Retrospektive“ lustig gemacht. Nun sind bis Anfang Juni in Stade auf drei Etagen mehr als 300 Werke Jaegers zu sehen - geplant waren ursprünglich nur etwa 200 Arbeiten.

Es sind Grafiken und Gemälde, Schwarz-Weiß-Federzeichnungen, kolorierten Zeichnungen. Entstanden ist ein enorm bildstarker Menschen-Zoo - Jaeger hat meist Tiere oder Mischwesen gezeichnet. All das natürlich voller Ironie und Skurrilität; außer von menschlichen Abgründen erzählt Jaegers Kunst aber von Vereinsamung und Trostlosigkeit.

Die letzte große Ausstellung zu seinen Lebzeiten hatte es 1988 im damaligen Harburger Helms-Museum gegeben. In dem hatte Jaeger in den 60er-Jahren als wissenschaftlicher und museumspädagogischer Zeichner ebenso gearbeitet wie im früheren Museum für Völkerkunde an der Rothenbaumchaussee, dem heutigen MARK. Zuvor hatte Jaeger an der Hamburger Hochschule für bildende Künste Freie Grafik und Illustration bei Alfred Mahlau studiert - in einer Klasse mit Horst Janssen -, anschließend Schrift-Grafik bei Werner Bunz.

Krieg und Militär prägen die Kindheit

In zwei Jahren Vorbereitung der „Retroperspektive“ hat Co-Kurator Sebastian Möllers mit seiner Kollegin Regina Wetjen etwa 2000 Werke aufgetrieben - fündig wurden sie bei 60 bis 70 Sammlern. Möllers: „Das lief alles über persönliche Kontakte in Deutschland und in der Schweiz.“ Dort hatte Jaeger Mitte der 70er seine erste Ausstellung mit Zeichnungen und Gemälden. In Hamburg hatte sich nach Jaegers Tod nur die Galerie Zwang in Einzelausstellungen dem Künstler gewidmet.

Von seiner großen provokativen Schau mit dem Titel „Heino Jaeger. Ein Maler des Deutschen Reiches stellt in der ehemaligen Reichshauptstadt aus“ vor fünf Jahrzehnten in einer Galerie am Berliner Ku’damm sind bis auf drei Arbeiten alle verschollen. „Heino Jaeger hat sich viel mit den Themen Krieg und Militär beschäftigt“, hat der Co-Kurator festgestellt. Folge seiner Kindheitserlebnisse: Mit der Familie –Vater Fotograf, Mutter Schneiderin, dazu zwei ältere Schwestern – war Heino aus Harburg nach Dresden geflohen, musste dort im Februar 1945 den Luftangriff miterleben, ehe er über das Erzgebirge nach Kriegsende zurück nach Harburg kam.

Jaeger griff auch mal zu drastischen Mitteln

Eines von seinen Werken hat in den vergangenen Tagen erschreckende Aktualität bekommen: Jaeger hat seine Arbeiten zwar nie mit Titeln versehen, doch eben jene kolorierte Zeichnung trägt den Zusatz „An der ukrainischen Grenze ertappt“. Sie zeigt einen Grenzer, der Flüchtlinge aufhält. „Für Jaeger und seine Arbeit war es wichtig, dass man sich seiner Geschichte stellt und damit auseinandergesetzt“, hat Möllers bei seinen Nachforschungen festgestellt. In den 1960ern und 1970ern war die NS-Diktatur nicht mal ansatzweise aufgearbeitet. Und so griff Jaeger zu einem drastischen Mittel: Ein im Kunsthaus ausgestelltes, nachempfundene Werbeplakat trägt den Schriftzug „Juden als Gefahr“.

Heino Jaegers Kunst war vielfältig und skurril: Zeichnung auf Papier ohne Titel von 1974 aus der Privatsammlung Kiel.
Heino Jaegers Kunst war vielfältig und skurril: Zeichnung auf Papier ohne Titel von 1974 aus der Privatsammlung Kiel. © Museen Stade

Bei der Beschaffung der Werke geholfen hat der einzige noch lebende Freund und letzte Vormund Jaegers, der Autor Joska Pintschovius. Seine Jaeger-Biografie „Man glaubt es nicht – Leben und Werk“ erschien schon vor 17 Jahren. Fast prophetisch sei Jaegers künstlerischer Pessimismus, etwa bei Umweltthemen, meint er.

2022 könnte ein Jaeger-Jahr werden

Dennoch, Heino Jaeger ist noch immer ein vergessenes Genie des deutschen Humors. Zu solch einem Kopf gehört - trotz aller Überzeichnung - primär die genaue Beobachtung. Jaegers Stil ist durchaus realistisch, seine gemalten Landschaften, die Gebäude erscheinen friedvoll. Bei Bildern, die einen (selbstverursachten) Brand der Wohnung zeigen, fließen erneut eigene Erfahrungen ein. Nicht nur in jenen Motiven, auch im filmischen Begleitmaterial, das Co-Kurator Möllers mit Pintschovius aus Super-8-mm-Filmen zu einem Zehnminüter verarbeitet haben, finden sich Hamburg-Bezüge. Zu sehen „Sozialstudien in Steilshoop“ und Szenen aus dem Stadtpark. Dazu kommen akustische Humorstücke, ohne dass seine bildende Kunst in den Hintergrund rückt. „Heino Jaeger war ein manischer Zeichner“, urteilt Möllers. Er hat meist zwischen einem Haufen von Werken gearbeitet, aber die bewusst kaum verkauft.

Heino Jaeger mit einem seiner Werke in den frühen 1970ern.
Heino Jaeger mit einem seiner Werke in den frühen 1970ern. © Harold Müller

Olli Dittrich war zu Eröffnung im kleinen Kreis schon da, um seinem Idol zu huldigen. Rocko Schamoni wird am 5. Mai im Begleitprogramm aus „Der Jaeger und sein Meister“ lesen. Und zum 25. Todestag am 7. Juli plant in Abstimmung mit dem Kunsthaus Stade auch das frühere Helms-Museum (jetzt Archäologisches Museum) ein kleines Festival. 2022 könnte ein Jaeger-Jahr werden.

Heino Jaeger: „Retroperspektive, oder wie man das nennt“ bis 6.6., Di, Do, Fr, 10.00-17.00, Mi 10.00-19.00, Sa/So 10.00-18.00, Kunsthaus Stade, Wasser West 7, Eintritt 8,-/erm. 4,-; www.museen-stade.de