Hamburg. Kenneth Branaghs Irland-Drama ist für sieben Oscars im Rennen und sein persönlichster Film – ganz starkes, emotionales Kino.
Erst sieht man Wahrzeichen von Belfast, in Farbe und schönstem Sonnenlicht. Wie aus einer Reisebroschüre. Echt jetzt?, mag man noch denken. Dann werden die Bilder schwarz-weiß, ein Sprung zurück um 50 Jahre. Aber auch hier überall nette Nachbarn, die miteinander plaudern, Kinder, die spielen und toben. Große Eintracht. Dann aber kommt eine randalierende Menge um die Ecke, schlägt Fensterscheiben ein, wirft Molotowcocktails, steckt Autos in Brand. Die Idylle verwandelt sich in einen Kriegsschauplatz. Und mittendrin der kleine Bub, der hier eben noch mit seinem Ball gespielt hat.
„Belfast“ ist der jüngste Film von Kenneth Branagh. Der britischste aller Filmemacher, wie man meinen möchte, weil er all die Shakespeare-Filme gemacht hat, in jüngster Zeit auch Agatha-Christie-Filme („Tod auf dem Nil“ ist erst vor zwei Wochen angelaufen). Wobei er sich immer gern selbst in den Mittelpunkt stellt. Aber Branagh ist kein Brite, er ist Ire. Der als junges Kind nach England kam, weil seine Eltern vor den Unruhen in Belfast geflohen sind. Und wer weiß, vielleicht wurde Branagh nur deshalb so britisch, weil man ihn in England immer spüren ließ, dass er nicht wirklich dazugehörte. Vielleicht sind all seine Filme auch immer eine übermäßige Kompensationsleistung.
Kino Hamburg: „Belfast“ ist Branaghs persönlichster Film
Nun aber startet ein Film, der so ganz anders ist als seine pompösen Kino-Epen. „Belfast“ ist ein Film über das Heranwachsen eines Jungen im aufbrandenden Nordirlandkonflikt. Und Branaghs persönlichster Film. Wohl kein Zufall, dass der Film zum 60. Geburtstag des Schauspielers und Filmemachers entstand, nur Corona ist es geschuldet, dass er nun erst kurz nach seinem 61. in unsere Kinos kommt. Dabei nimmt sich Branagh einmal ganz zurück. Und verkneift sich einen eigenen Aufritt. Es braucht wohl auch Distanz, wenn man die eigene Kindheit nachstellt.
Denn in dem kleinen Buddy (eine Entdeckung: Jude Hill), der in Belfast in einer protestantischen Arbeiterfamilie aufwächst und mitten in den Tumult gerät, darf man klar Branagh erkennen. Seine unbeschwerte Kindheit endet jäh, als 1969 die sogenannten Troubles beginnen. Vorbei ist es mit der friedlichen Koexistenz zwischen Protestanten und Katholiken, als die Bürgerkriegsgewalt einbricht. Und ehemaligen Nachbarn unverhohlen gedroht wird: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns. All das strahlt eine plötzliche Aktualität aus.
Erfahrungen aus der Perspektive eines Neunjährigen
Der Vater, der nur Pa genannt wird (dargestellt von Jamie Dornan, der hier zeigen darf, dass er mehr als „50 Shades of Grey“ kann), ist meist abwesend, weil er nur in England Arbeit gefunden hat und bloß alle zwei Wochenenden nach Hause kommt. Er überlegt früh, mit der Familie ganz dahin auszuwandern. Oder noch weiter weg, nach Kanada oder Australien. Das aber will Ma (Caitriona Balfe, bekannt aus „Outlander“) keinesfalls: Sie war noch nie woanders. Und da sind ja noch die kränklichen Großeltern (die Altstars Ciáran Hinds und Judi Dench), um die man sich sorgen und kümmern muss.
Erlebt wird das aber nicht aus der Sicht der Erwachsenen, sondern ganz aus der Perspektive des Neunjährigen, der die Welt nicht mehr versteht und sich einen Reim darauf machen muss. Der die Unruhen teils auch als Spiel empfindet und dann eben mitmacht, wenn ein Laden geplündert wird. Aber zugleich ist er in eine Klassenkameradin verliebt. Wie passen diese Gefühle in eine so aufgeheizte Stimmung?
Kino Hamburg: Zuerst eroberte Branagh die Bühne
Der Film spielt ausschließlich in Buddys kleiner Lebenswelt, in der kurzen, abgesperrten Straße, dem kleinen Haus, dem schmalen Hof. Eine beklemmende Kulisse, die immer bedrückender wird. Und nur wenige Ausflüchte erlaubt. Etwa wenn er mit der ganzen Familie im Kino sitzt. Und alle erschrecken, wenn in „Tschitti Tschitti Bäng Bäng“ das Auto zu fliegen beginnt. Oder wenn er mit der Oma im Theater die „Weihnachtsgeschichte“ von Charles Dickens sieht. Dann wird der Schwarz-Weiß-Film ganz kurz mal farbig: Die Fantasie ist stärker als die graue Realität.
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Da scheint es nur logisch, dass Kenneth Branagh erst die Bühne und dann das Kino erobert hat. Mit „Belfast“ kehrt er nun zu seinen Wurzeln zurück. Und macht seiner Heimatstadt eine Liebeserklärung. „Belfast“ ist ein fast klaustrophobisches Kammerspiel und doch ganz großes, starkes, emotionales Kino. Das keinen ungerührt lässt – und nun für sieben Oscars im Rennen ist. Ein klares Plädoyer für Respekt und ein friedliches Miteinander. Gewidmet ist der Film, so steht es im Abspann, all denen, „die geblieben sind“ (wie Ciáran Hinds’ Familie), „denen, die gegangen sind“ (wie die Branaghs), „und allen, die wir verloren haben“.
„Belfast“ 99 Minuten, ab 12 Jahren, läuft im Abaton, Studio, Holi, UCI Mundsburg, Blankeneser, Koralle und Zeise