Hamburg. „Tim“, das einzige lebende Kunstobjekt der Welt und in der Sammlung des Hamburgers Rik Reinking, stand Pate für einen besonderen Film.
„Wollen Sie meine Seele?“ – „Ich will Ihren Rücken, Sam!“ Eine wahrhaft teuflische Schlüsselszene, die sich da zwischen Geflüchtetem und Künstler abspielt und ahnen lässt, dass diese Geschichte – zumindest für Ersteren – nicht gut ausgehen wird. Im Kinofilm „Der Mann, der seine Haut verkaufte“, wird der Syrer Sam Ali (Yahya Mahayni) verhaftet, weil er mit seiner Freundin angeblich zur Revolution aufgerufen hat. Ihm gelingt die Flucht nach Beirut.
Seine Freundin Abeer (Dea Liane) heiratet während seiner Abwesenheit einen anderen und lebt in Brüssel. Als Sam sich bei einer Vernissage einschleicht, um etwas vom Büfett zu ergattern, trifft er auf den belgisch-amerikanischen Künstler Jeffrey Godefroi (Koen de Bouw), der sich selbst als Mephisto bezeichnet und mit seinen schwarz geschminkten Augen auch tatsächlich so wirkt. Er bietet Sam an, zum Träger eines Kunstwerks zu werden, um fortan frei reisen zu können.
Kino Hamburg: „Viele sagen, die Kunst sei tot“
„Viele sagen, die Kunst sei tot“, so Godefroi in einer Videobotschaft. Mit Sam will er das Gegenteil beweisen. Und, mehr noch, anklagen, dass „Waren freier zirkulieren können als Menschen“. Nicht er sei zynisch, sondern diese Welt. Um auf die Unfreiheit von Menschen wie Sam aufmerksam zu machen, tätowiert Godefroi seinem Modell ein Schengen-Visum auf den Rücken. Ein Skandal, den der Künstler geschickt zu vermarkten weiß, getrieben von der schamlos-ehrgeizigen Assistentin Soraya (Monica Bellucci).
Sam verpflichtet sich per lebenslangem Vertrag, dem Künstler überall hin zu folgen und sich in stundenlangen Sitzungen in Museen der Öffentlichkeit zu präsentieren – den Kopf stets gesenkt zur Wand gerichtet. Im Gegenzug bekommt er ein Bleiberecht in Brüssel. Er wohnt in einem luxuriösen Hotel, bestellt sich Kaviar aufs Zimmer, wird im seidenen Morgenmantel zu seinem Podest geführt – und vereinsamt zusehends. Seine zaghaften Versuche, mit Besuchern zu interagieren, werden vom Aufsichtspersonal sofort unterbunden, bei einem Fotoshooting interessiert sich niemand für seine Person, er bekommt nicht einmal ein Bild, das er seiner Mutter schicken kann. Und die Freundin, deretwegen Sam diesen zweifelhaften Handel überhaupt eingegangen ist, bleibt für ihn unerreichbar.
Tim Steiner ließ Rücken in Kunstwerk verwandeln
Ein lebendiges Kunstwerk wie im Film dargestellt, existiert tatsächlich. Die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania wurde durch den Schweizer Tim Steiner inspiriert, nachdem sie ihn im Pariser Louvre gesehen hatte. Steiner, selbst Tätowierer, erfuhr 2006 von dem Künstler Wim Delvoye über seine Freundin, die in einem Zürcher Auktionshaus tätig war. Er ließ seinen Rücken von dem belgischen Konzeptkünstler in ein Kunstwerk verwandeln. Die Tätowierung, die Delvoye in 40 Stunden Arbeit über zwei Jahre auf Steiners Rücken stach, thematisiert die Weltreligionen; zentrales Motiv ist eine Madonnenfigur mit Totenkopf.
2008 erwarb der Hamburger Sammler Rik Reinking das Kunstwerk „Tim“ für rund 150.000 Euro von einer Schweizer Galerie und damit das Recht, das Tattoo auf Tim Steiners Rücken als Leihgabe weiterreichen, verkaufen und vererben zu dürfen. Der Erlös ging in Teilen an den Künstler, die Galerie und Tim Steiner. Nach Steiners Tod ist Reinking berechtigt, die Haut abzuziehen, zu konservieren und aufzukeilen; sie könnte dann wie ein Gemälde verliehen oder verkauft werden.
„Tim“ wurde im Rahmen einer Ausstellung gezeigt
Reinking betreibt das Ausstellungsgelände Woods Art Institute (WAI) in Wentorf bei Hamburg. In seiner Sammlung gehe es um die An- und Abwesenheit von Körper und Energie, in diesem Kontext habe er sich auch für „Tim“ interessiert. Im Rahmen der Ausstellung um die Themen Leben, Tod und Identität im vergangenen Jahr wurde auch „Tim“ gezeigt. Er sei „seit einigen Jahren in regelmäßigen Abständen als Leihgabe im MONA (Museum of Old and New Art) in Tasmanien“, so Reinking. Pandemiebedingt war eine Einreise 2020 und 2021 nicht möglich. Deswegen habe man aus dem WAI live ins MONA gestreamt. „Jede Nacht setzte Tim sich gegen Mitternacht auf seine ,Kiste‘ und saß dort bis 6 Uhr morgens.“
Es ist, zugegeben, ein eigenartiger Kunsthandel, den Reinking und Steiner da eingegangen sind, immerhin ist es die Haut eines anderen Menschen, da ist der Begriff Organhandel nicht fern. Um rechtlich auf der sicheren Seite zu sein, vergewisserte sich der Sammler gründlich, dass Tim Steiner finanziell unabhängig ist und die Zusammenarbeit richtig versteht. Er will, anders als im Film dargestellt, Tim nicht als Opfer verstanden wissen.
„Der Mann, der seine Haut verkaufte“ für Oscar nominiert
Der Vertrag zwischen beiden ist mehr als 30 Seiten lang, er enthält die Erbverzichtserklärung von Steiners Eltern sowie sein Testament. Es ist auch genau geregelt, wie viel Zeit dieser im Jahr aufwenden muss. „In der Praxis sieht es aber so aus, dass, wenn eine Anfrage reinkommt, ich mich mit Tim abstimme. Er ist mein Freund, ich erwarte gar nichts von ihm und will auch kein Geld mit ihm verdienen“, so Reinking.
Zu „Der Mann, der seine Haut verkaufte“, der 2021 als bester internationaler Film für einen Oscar nominiert war, will der Sammler keinen Kommentar abgeben. Denn das, was der Film über Kunst und Künstler transportiere, habe weder etwas mit seinem Anspruch und seiner Philosophie als Sammler noch mit „Tim“ zu tun. „Die Regisseurin hat sich mit keinem von uns in Verbindung gesetzt, aber den einzigen Satz verwendet, den ich tatsächlich gesagt habe, als ich die Arbeit gekauft habe, nämlich, dass sie „die Unterschrift des Teufels trägt“.
Ein tätowiertes Schwein im MK&G
Sich ein Thema anzueignen ist eine Sache. Schwierig ist in der Tat, dass die Regisseurin offensichtliche Bezüge zu realen Personen und Vorgängen herstellt, ihre Figuren dann aber in eine dramatische, bisweilen ins Kitschige abdriftende Liebesgeschichte vor politischem Hintergrund verwickelt und zu einem moralischen Skandal zuspitzt. Im Gegensatz zum Geflüchteten, der seine Haut verkauft, um sie zu retten, hat sich Tim Steiner aus freien Stücken dazu entschlossen. Außerdem hat er das Recht, jederzeit aus dem Vertrag auszusteigen. Der selbstverliebte Schweizer Sammler Christian Walz, der „Sam“ im Drama erwirbt, ist allzu klischeehaft dargestellt.
Kontrovers diskutiert wird dagegen die Rolle des realen Künstlers, allerdings in einem anderen Zusammenhang: Denn Wim Delvoye hat auch die Haut von Schweinen tätowiert (in einer Filmszene läuft Sam Ali im Museum an einigen ausgestellten Tierexponaten vorbei, deren Oberfläche wie Louis-Vuitton-Taschen aussehen). Ein tätowiertes Schwein war im Jahr 2015 neben „Tim“ auch Teil der „Tattoo“-Ausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G).
„Die Besucher haben sehr gelassen auf Tim reagiert"
Dennis Conrad, der als Co-Kurator die aus dem Museum Winterthur übernommene Schau betreute, erinnert sich: „Die Besucherinnen und Besucher haben sehr gelassen auf Tim reagiert. Womöglich, weil mittlerweile großflächige Tätowierungen gang und gäbe sind. Womit wir allerdings nicht gerechnet hatten, war ein Shitstorm von Tierschützern, die über zwei Tage unseren Facebook-Kanal fluteten.“ Conrad erklärt, dass Wim Delvoye damit einen „Provokationsmoment zwischen Kunst und Kommerz“ auslösen wolle: „Kaum jemand stößt sich an Ledergürteln oder -handtaschen, aber wenn eine Tierhaut auf so eine direkte Weise präsentiert wird, schon.“
- „King Richard“: Will Smith in einer seiner besten Rollen
- „Wir Regisseurinnen wollten einfach Frauen als Menschen"
- Wie Tom Holland auf den Spuren von Tom Cruise wandelt
Auch das filmische Drama spart nicht mit Schockmomenten. Nach einer Auktion, bei der Sam wie ein Objekt meistbietend versteigert wird, verlässt er das Podest und täuscht ein Selbstmordattentat vor, woraufhin er ins Gefängnis kommt. Aber nicht einmal das entlässt ihn aus den Fängen des Künstlers, sodass Sam am Ende nur einen Ausweg sieht …
Kino Hamburg: Keine Diskussion über den Werteverfall
Eine Diskussion über Werteverfall im Kunstmarkt und Verfügungsrecht über den menschlichen Körper findet im Film nicht statt: Als Sam von einer Menschenrechtsorganisation kontaktiert wird und es zu einer Demonstration im Museum kommt, lehnt er dies ab. Es geht ihm um seine persönliche Freiheit. Immerhin: Darin stimmen fiktive und reale Person, so verschieden sie sein mögen, überein.
„Der Mann, der seine Haut verkaufte“ 108 Min., ab 12 J., läuft im 3001, Abaton, Zeise