Hamburg. Autorin Nino Haratischwili schreibt über Schmerz, Ausbruch und Freundschaft. Das Thalia Theater bringt ihren neuen Roman auf die Bühne.
Erinnerungen sind eine gewaltige Kraft. In „Das mangelnde Licht“ schreibt Nino Haratischwili nach ihrem Erfolgsepos „Das achte Leben (Für Brilka)“ und dem düsteren Tschetschenien-Roman „Die Katze und der General“ erneut über das Land, in dem sie selbst geboren und aufgewachsen ist: das Georgien der frühen 1990er-Jahre. Ein taumelnder Ort zwischen Anarchie und kindlicher Sehnsucht, Sinnlichkeit und Besessenheit, Verrat, Blutrache und oft enttäuschter Hoffnung.
Im Zentrum: vier Freundinnen und ihr Erwachsenwerden im Kosmos einer ungleichen Hofgemeinschaft in Tiflis. Auf mehr als 830 rauschhaften Seiten begleitet Haratischwili ihre Figuren durch die klug mit der Gegenwart verschränkte Retrospektive einer radikalen Zeit. Nahezu zeitgleich mit Erscheinen des Romans bringt die Regisseurin Jette Steckel den Stoff, der durch die Weltlage eine erschreckende Aktualität erfährt, auf die Bühne des Thalia Theaters. Ein Gespräch über das Unschuldige im Schrecklichen, die Angst vor der russischen Bedrohung und die Spielregeln der friedlichen Welt.
Hamburger Abendblatt: Durch Ihren neuen Roman zieht sich – wie schon in „Die Katze und der General“ – die ständige Präsenz von Gewalt und Tod und Krieg. Sind das Themen, die einen zwangsläufig begleiten, wenn man über den Kaukasus schreibt?
Nino Haratischwili: Es sind Themen, die mit dem 20. Jahrhundert einhergehen. Es war einfach nicht in erster Linie friedlich und romantisch. Dieser Sturz in die Anarchie und die omnipräsente Gewalt, das war bei uns in Georgien in dieser Ausprägung sehr typisch für die 90er-Jahre. Es gab zehn Jahre lang nur die Illusion eines Alltags.
Sie beschreiben – wieder – einen Typus Mann, der „süchtig nach Gewalt“ ist.
Haratischwili: Niemand von uns weiß, wozu wir fähig sind. Die Umstände schaffen die Menschen. Jemand, der vorher ganz normal zur Schule ging, kann zur Kalaschnikow greifen und ein Massaker veranstalten. Weil ihn niemand aufhält. Im Roman sind es ja halbe Kinder, die diesem degenerierten Mythos von Männlichkeit hinterherjagen. Niemand weiß, wer in der Lage ist, eine Frau zu vergewaltigen. Aber es gibt offenbar diese Form der Haltlosigkeit, wenn das Umfeld es erlaubt.
Man spürt gerade durch die zeitliche Nähe, wie unglaublich dünn die Schicht der Zivilisation offenbar ist ...
Haratischwili: Ja, das ist mir auch beim Schreiben wieder aufgefallen. Bewaffnet waren damals ja nicht nur skrupellose Mafiosi, sondern auch Kinder von Ärzten oder Lehrern. Die dann genauso skrupellos wurden. Mich interessiert diese Frage: Was macht uns zu denen, die wir sind? Man hat immer eine Wahl, aber nicht jeder ist fähig, die richtige zu treffen. Warum haben in der Nazi-Zeit manche Menschen Juden gerettet und andere haben sie kaltblütig ausgeliefert? Wozu ist der Nachbar, der uns immer grüßt, in der Lage – unter anderen Umständen? Im Buch beschreibe ich eine pervertierte Ethik, ein System, das die eigenen Kinder frisst.
„Weil ihn niemand aufhält“, haben Sie gerade gesagt. Sie erzählen in „Das mangelnde Licht“ ja auch den furchtbaren Abchasienkrieg sehr anschaulich, und auch wenn es nicht direkt vergleichbar ist, sind die Parallelen zur aktuellen Situation in der Ukraine doch unverkennbar: die abtrünnige Republik, die verschobenen Grenzen, die Auseinandersetzungen mit Russland. Georgien hat noch heute keine diplomatischen Beziehungen zu Russland. Wie geht es Ihnen aktuell beim Nachrichtengucken?
Haratischwili: Ich finde das alles so fatal. Als Georgierin identifiziere ich mich sehr stark mit der Situation, natürlich ist es ähnlich. Man hört auch in Georgien die Sorge: Als Nächstes sind wir wieder dran. Die Problematik der permanenten Bedrohung ist uns sehr vertraut. Ich hoffe, dass ein Rest gesunder Menschenverstand dafür sorgt, dass die Diplomatie doch noch etwas erreichen kann. Aber wenn man Putin reden hört und handeln sieht, ist das alles so absurd. Es kommen so viele unschöne Erinnerungen wieder hoch, so viel Ohnmacht. Ich denke in erster Linie an die Zivilbevölkerung. An dieses Leid! Wieder und wieder, noch mal und noch mal. Wofür?! Es geht immer um Macht, es ist so ernüchternd.
Haben Sie Angst?
Haratischwili: Ich bin angespannt. Und mich schockt es immer wieder. Mich schockt auch, was man hier vor ein paar Wochen im Radio hören konnte: dass ein russischer Botschaftsmitarbeiter aus dem Fenster gefallen ist. Mitten in Berlin. „Aus dem Fenster gefallen.“ Das durfte nicht weiter aufgeklärt werden. Wie der Tschetschene mit georgischem Pass, der im Berliner Tiergarten erschossen wurde, am helllichten Tag. Sind diese Dinge normal? Nimmt man die so hin? Wo leben wir denn? Da ist es schwer, nicht zynisch zu werden.
Ihre Hauptfigur Keto sagt im Roman an einer Stelle: „Wenn ich versuche, die Dinge zu rekonstruieren, kommen sie mir ausgedacht vor. Und dann denke ich, wäre das alles ein Film, würde ich ihn vollkommen übertrieben finden.“ In Ihrer Rede zu den Lessingtagen haben Sie am Thalia Theater kürzlich ein ganz ähnliches Phänomen beschrieben. Schreibt die Realität die bizarrsten, grausamsten Geschichten?
Haratischwili: Bei diesem Buch ist es mir manchmal tatsächlich in den Sinn gekommen, dass es an manchen Stellen ausgedacht wirken könnte – ist es aber leider nicht. Klar, die Figuren sind fiktiv. Die Zeit aber nicht. Diesen Impuls, etwas nicht für „echt“ oder für wahrscheinlich zu halten, verstehe ich trotzdem. Wenn ich mich mit meinen Freunden austausche, die mit mir in dieser Zeit in Tblissi gelebt haben, fühlen wir auch manchmal eine Distanz zu den Dingen. Weil es nicht mehr greifbar ist, sich total surreal anfühlt, obwohl es ja gar nicht so lange zurückliegt. Wenn man sich mit diesen Dingen beschäftigt, braucht man einen gesunden Abstand. Sonst wird man wahnsinnig.
Wir sind „Protagonisten und Beobachter zugleich“, heißt es an einer anderen Stelle im Buch, als die Hauptfiguren auf einer Fotoausstellung der eigenen Kindheit gegenüberstehen. Ist das ein Gefühl, das Ihnen sehr nah ist?
Haratischwili: Absolut! Dazu fällt mir ein Abend vor ein paar Jahren in Hamburg ein: Ich war bei einer Kinovorstellung im Kino 3001, es lief der Georgien-Film „Die langen hellen Tage“ von der tollen Regisseurin Nana Ekvtimishvili, der spielt genau im selben Jahrzehnt wie mein Buch. Zwei Teenager-Mädchen müssen sich in dem Film durch diese verrückte Zeit durchkämpfen. Und so kam es, dass wir im Anschluss noch zusammenstanden – viele Georgierinnen waren da, auch ein paar Deutsche, es war ein schöner Sommerabend, wir unterhielten uns über Teenagerjahre und Pubertät. Plötzlich driftete das Erinnern unter uns Georgierinnen ab: Standen bei dir auch Panzer vor der Tür? Wurden bei dir auch Freunde ermordet, wurde bei euch auch geschossen? Die Deutschen verstummten immer mehr bei den ganzen Grausamkeiten, die sie da zu hören bekamen. Aber wir haben fröhlich Anekdoten erzählt. Es war ja trotz allem unsere Jugend, unsere Kindheit! Und egal wie schlimm die bisweilen war, man hat beim Erinnern trotzdem auch ein Gefühl von Leichtigkeit, von Aufregung. Auch wenn der Strom dauernd ausfiel, habe ich mich für Musik interessiert, war ich verliebt. Die Zuhörer waren immer betroffener – wir nicht. Das war sehr bezeichnend. Mir war diese eigene emotionale Distanz bis dahin gar nicht so bewusst.
Dazu passt noch ein Zitat aus dem Roman: „Ich habe nach meinem Umzug nach Deutschland penibel darauf geachtet, meine Mitmenschen nicht allzu sehr zu verstören“, sagt Keto, die Ich-Erzählerin. „Ich habe jeweils nur das Nötigste preisgegeben und meine Wort akribisch abgewogen, ich habe mich darin geübt, sie mit meiner Vergangenheit nicht über die Maßen zu schockieren, mir stattdessen die Spielregeln einer friedlichen Welt gut und schnell angeeignet.“ Eine Strategie, die Sie gut kennen?
Haratischwili: Das ist mir sehr vertraut! Nicht an alles erinnert man sich gern, manches war schon extrem. Ich vermisse das nicht alles, ich gehe damit auch nicht hausieren, aber es gehört zu meinem Leben dazu. Es ist kein Tabu. Und so viele schreckliche Dinge damals auch passiert sind, erinnere ich auch den Zusammenhalt, das Mitgefühl, die Unterstützung, weil man so aufeinander angewiesen war. Das gibt es so heute in Georgien auch nicht mehr. Natürlich fühle ich auch Wut und Trauer über die vielen sinnlosen Tode. Aber all das hat mich auch zu dem gemacht, was ich bin. Man entwickelt eine Art Galgenhumor. Eine Resilienz. Bis wir Georgier ein Alltagsproblem als Problem wahrnehmen – das dauert ein bisschen. (lacht) Diese Abhärtung ist vielleicht nicht immer so toll, aber doch auch manchmal hilfreich.
Sie haben mal gesagt, Sie wollen beim Schreiben herausfinden, „warum die postsowjetischen Staaten so sind, wie sie sind“. Tatsächlich eröffnen Sie vielen westlich sozialisierten Lesern und Leserinnen genau diese fehlende Perspektive. Gleichzeitig schildern Sie im Roman das Publikum einer Georgien-Fotoausstellung, die im Roman einen zentralen Raum einnimmt, nicht sehr schmeichelhaft: die routinierte Betroffenheit, das Sekt-Schlürfen ... Spiegeln sich in diesen Szenen nicht auch Ihre Leserschaft und das Theaterpublikum?
Haratischwili: Ein bisschen, bestimmt. Aber: Das betrifft uns ja alle. Wenn ich ein Theaterstück über den Kongo anschaue, bin ich hinterher die mit dem Sekt. Falsche Betroffenheit brauche ich nicht, mich freut stattdessen das Interesse und die Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen. Und natürlich setze ich nicht voraus, dass mein Publikum sich bis ins Detail mit georgischer Geschichte oder mit Tschetschenien auseinandergesetzt hat. Im Idealfall schauen sie sich die Stücke an oder lesen meine Geschichten und interessieren sich danach dafür. Manche gehen später georgisch essen oder reisen sogar dorthin. Das ist doch viel!
In „Das mangelnde Licht“ übernimmt das Land Georgien wie schon in „Brilka“ wieder eine der Hauptrollen. Holen Sie sich auf diese Weise die Heimat schreibend zurück? Weil sie so nicht ganz zurückgelassen ist?
Haratischwili: Das ist eine spannende Frage. Vielleicht. Es ist nicht mein Hauptanliegen – und vielleicht ist es auch mehr eine bestimmte Zeit, die ich versuche zu konservieren. Ein bestimmtes Gefühl. Ich fühle mich immer noch in Georgien zu Hause, aber vieles von dem, was ich in dem Buch schildere, gibt es dort so gar nicht mehr.
Roman & Premiere |
Nino Haratischwilis neuer Roman „Das mangelnde Licht“ wurde bereits in 15 Länder verkauft. Der Vorgängerroman „Die Katze und der General“ stand 2018 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und läuft, wie das Georgien-Epos „Das achte Leben (Für Brilka)“, am Thalia Theater. In der Uraufführung an diesem Sonnabend, 19 Uhr, spielen u. a. Lisa Hagmeister, Maja Schöne, Rosa Thormeyer und Fritzi Haberlandt. Weitere Vorstellungen: 27.2. (19 Uhr), 1.3. (19.30), 18.3. (20 Uhr) und 20.3. (17 Uhr). Karten unter www.thalia-theater.de |
„Wann hört etwas auf, das eigene zu sein?“, lassen Sie Ihre Protagonistin fragen. „Wo liegt die Grenze, an der das Vertraute zum Fremden wird?“ Sie leben seit fast 20 Jahren in Deutschland – haben Sie eine Antwort?
Haratischwili: Nein. Aber das Thema begleitet und beschäftigt mich. Ich habe oft einen Gewinn daraus gezogen, es nicht immer so eindeutig beantworten zu können. In so einem Widerspruch kann ja auch eine Freiheit liegen.
Auch einige der Frauen, über die Sie schreiben, verlassen Georgien, eine geht in die USA, eine andere nach Deutschland. Keine geht ohne ein schlechtes Gewissen den Zurückgebliebenen gegenüber. Ist das ein Gefühl, das Ihnen vertraut ist?
Haratischwili: Es ist immer ein Zwiespalt. Viele georgische Frauen sind damals gegangen, um hier zum Beispiel als Pflegekräfte zu arbeiten, nicht wenige haben ihre Kinder zurücklassen müssen, ihre ganze Familie, um irgendwie Geld zu verdienen. Das ist natürlich eine ganz andere Situation als die der Frauen im Buch oder als meine. Aber ich habe damals auch gedacht, dass ich zurückkehren würde. Bis auf meine Mutter ist meine Verwandtschaft noch immer dort. Im ersten Lockdown war ich mit meinen Kindern mehrere Monate am Stück in Tblissi, sie waren dort in der Kita. Mir ist extrem wichtig, dass sie die georgische Sprache und die Kultur als eine Konstante begreifen, die auch zu ihrer Identität gehört. Am schwierigsten ist es, deutsche Kinderbücher beim Vorlesen synchron ins Georgische zu übersetzen! (lacht) Sie lieben die Axel-Scheffler-Bücher sehr, „Grüffelo“ und all diese Geschichten, die gibt es leider nicht auf Georgisch.
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Werden Ihre eigenen Bücher alle ins Georgische übersetzt?
Haratischwili: Ja, bei „Brilka“ hat es damals lange gedauert, aber dann ist es auch in Georgien sehr viel gelesen worden. Ich bekomme immer noch viele emotionale Reaktionen darauf. „Die Katze und der General“ und „Das mangelnde Licht“ sind beide in Arbeit, es sind unterschiedliche Übersetzerinnen, ich weiß gar nicht, welches zuerst fertig wird.
Sie schreiben auf Deutsch – und Sie legen im Roman die Verehrung für die deutsche Sprache einer Großmutterfigur in den Mund, die darin „Trost und Wärme, Güte und Erhabenheit“ findet. Das brechen Sie schnell, indem Sie den Enkel entgegnen lassen, dass Deutsch „wie ein Presslufthammer“ klingt. Ich nehme an, die Großmutter-Position ist Ihnen näher?
Haratischwili: Ja! Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, dass Deutsch hart klingen soll. Aber ich kann es wahrscheinlich auch gar nicht mehr einschätzen, wie die Sprache auf jemanden wirkt, der sie nicht spricht. Sie ist mir viel zu vertraut inzwischen. Deutsch ist auch eine extrem dankbare Sprache zum Schreiben, weil sie so genau ist. Eines meiner Lieblingswörter ist „Fremdschämen“, dafür gibt es im Georgischen gar keinen Begriff.