Hamburg. Schlesisch ist seine Muttersprache, in Polen verkauft der Schriftsteller Szczepan Twardoch Hunderttausende Bücher. Eine Begegnung.

Nach Berlin ist er mit dem Auto gekommen. Sechs Stunden Fahrt aus dem polnischen Dorf Pilchowice bis ins Hotel Oderberger in Prenzlauer Berg. Kein Problem für Szczepan Twardoch, er ist ein passionierter Autofahrer und sammelt Oldtimer. In Polen war er sogar das Aushängeschild einer Werbekampagne von Mercedes-Benz. „Normalerweise nehmen sie berühmte Fußballer oder Schauspieler. Diesmal haben sie sich für einen Schriftsteller entschieden“, erzählt er.

Seine Popularität in der polnischen Heimat ist groß, Twardochs Romane verkaufen sich sechsstellig. Nach Berlin ist er gekommen, um sein neuestes Werk vorzustellen, das gerade im Verlag Rowohlt Berlin erschienen ist. „Demut“ ist der schlichte Titel. Im Original heißt es nach seiner Hauptfigur, „Pokora“. „,Pokora‘ bedeutet übersetzt ,Demut‘, erklärt Twardoch. „Es ist in vielen slawischen Ländern ein weit verbreiteter Familienname.“

„Demut“ basiert auf persönlichen Erfahrungen

„Demut“ erzählt die Geschichte eines Jungen, der es aus armen Verhältnissen mithilfe eines Priesters auf eine höhere Schule und die Universität schafft, der im Ersten Weltkrieg Offizier wird, im mörderischen Stellungskrieg in Flandern verwundet wird, in einem Krankenhaus in Berlin aus dem Koma erwacht, die revolutionären Aufstände 1919/20 in Berlin erlebt und von dort in seine schlesische Heimat zurückkehrt.

„Mein Roman basiert auf meinen persönlichen Erfahrungen und denen meiner Familie. Alois Pokora fühlt sich entwurzelt, für seine Familie ist er ein Fremder geworden. Er fühlt sich einsam, weil er nicht mehr zur Arbeiterklasse gehört, es aber auch nicht in die Mittelschicht geschafft hat“, sagt Twardoch über seine Hauptfigur. „Er besitzt keine Identität mehr. Er stellt sich die Frage, die sich jeder Mensch stellt: Wer bin ich eigentlich?“

„Schlesisch ist meine Muttersprache"

Identität ist auch für Twardoch eine wichtige Frage, denn er fühlt sich nicht als Pole, sondern als Schlesier. Mit seiner Familie spricht er Schlesisch, eine Sprache, die unterzugehen droht, weil sie in polnischen Schulen nicht gelehrt wird. „Polen verweigert uns Schlesiern die Anerkennung als ethnische Minderheit und als regionale Sprache. Von den 37 Millionen Menschen, die in Polen leben, gehören etwa eine Million zu Schlesien. Schlesisch ist meine Muttersprache. Polnisch habe ich erst in der Grundschule gelernt. Meine Romane schreibe ich auf Polnisch, jedoch aus einer schlesischen Perspektive“, so Twardoch.

Wie seine Romanfigur Pokora stammt auch Twardoch aus einer Familie von armen Bauern, Handwerkern und Minenarbeitern. Seinen Stammbaum kann er für die vergangenen 350 Jahre bis in die Zeit Friedrichs des Großen zurückverfolgen.

„Ich versuche, in die Ära einzutauchen“

Szczepan  Twardoch: „Demut“, Rowohlt Berlin. 464 Seiten, 25 Euro.
Szczepan Twardoch: „Demut“, Rowohlt Berlin. 464 Seiten, 25 Euro. © Rowohlt Verlag

Twardoch, 1979 in Knurów in Südpolen geboren, erzählt fiktive Geschichten, doch er will immer dicht an historischer Wahrheit bleiben. Seine Romane, die alle in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielen, bestechen mit detailgenauen Beschreibungen und haben fast filmische Qualitäten. „Ich versuche, in die Ära einzutauchen“, sagt er.

„Ich lese alles, was ich bekommen kann, beginne mit Memoiren und Zeitungsartikeln. Erst später kommen Geschichtsbücher hinzu. Es geht mir um den Zeitgeist. Wenn Alois Pokora 1919 durch Berlin irrt, weiß er nicht, was um ihn herum geschieht. Ein Geschichtsbuch weiß alles, aber meine Personen tappen im Dunklen. So versuche ich den Zeitgeist einer Ära einzufangen.“ Das gelingt ihm brillant mit den Beschreibungen der Angst und des Todes der Soldaten im Stellungskrieg in Flandern.

„Demut“ hat viel mit Twardochs Familiengeschichte zu tun

„Deutschland muss sterben, damit wir leben können“, lässt er den Pionier Kiesel sagen, dem eine Granate beide Beine abgerissen hat. Das Zitat stammt aus einem Song der Hamburger Punkband Slime. „Ich fand den Satz sehr treffend über das Monster Deutschland, das Menschen verschlingt und zerstört, deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, es in diesen Zusammenhang zu setzen“, sagt Twardoch.

Mit „Demut“, seinem fünften Roman, ist dem populären Schriftsteller wieder ein Werk gelungen, der bei allen literarischen Freiheiten genau recherchiert ist und viel mit Twardochs Familiengeschichte zu tun. Die Härte des Lebens in den Minen, die Unterwerfung unter wechselnde Obrigkeiten, die familiäre Armut macht er immer wieder zum Thema. Wenn Pokora mit Leuten aus der Mittelschicht zu tun hat, fühlt er sich wie ein Verräter. Ein Vorwurf, mit dem Twardoch selbst vor allem nach seinem größten Erfolg „Der Boxer“ konfrontiert wurde. Am Beispiel des jüdischen Boxers Jakub Shapiro beschreibt er den offenen Antisemitismus der Polen in den 1930er-Jahren, von dem besonders rechts gerichtete Zeitgenossen nichts hören möchten. „Ich bin als ,Verräter‘, ,Jude‘, ,Volksdeutscher‘ diffamiert worden, aber das ist mir egal“, sagt Twardoch.

Und der Erfolg gab ihm recht. 350.000 Exemplare des „Boxers“ gingen in Polen über die Ladentische. Der Roman wurde als achtteilige Fernsehserie verfilmt und inzwischen sogar ins Ausland verkauft. In Hamburg läuft der „Boxer“ in einer Inszenierung der polnischen Regisseurin Ewelina Marciniak am Thalia in der Gaußstraße – eine Aufführung, die Twardoch sehr gefallen hat, wie er sagt. In Deutschland hat diese wichtige literarische Stimme immer noch den Status eines Geheimtipps. Das könnte sich mit „Demut“ endlich ändern.

„Der Boxer“ läuft am Thalia/Gaußstraße wieder am 30.4., Karten unter T. 328 14-444 und www.thalia-theater.de