Hamburg. In der Elbphilharmonie stehen Konzerte von Gergiev und Netrebko an. Thalia-Intendant ist “vollkommen erschüttert“.

Seit der gestrigen Nacht ist die Welt eine andere. Beim Telefonat mit Thalia-Intendant Joachim Lux ist einer seiner ersten Sätze, mit echtem Schrecken in der Stimme: „Es ist wirklich Krieg!“ In Europa. Nun stellen sich auch für die Kultur, und auch in Hamburg komplexe Fragen, die schwierige Suche nach Antworten muss beginnen.

„Ich bin noch vollkommen erschüttert“, sagt Lux nun. „Nie hätte ich für möglich gehalten, dass ein neuer Krieg in Europa ausbrechen könnte Nie! Ich war immer der Auffassung, dass Deutschland sich mit der Kritik an Russland zurückhalten sollte. Die deutschen sind historisch für 24 Millionen Tote in der russischen Bevölkerung verantwortlich und haben in Leningrad mit dem Aushungern der Bevölkerung eines der schlimmsten Kriegsverbrechen mit einer Million Toten begangen.

Aber kann man sich jetzt länger auf diese historische Schuld berufen? Nein! Natürlich nicht. Ich denke, die Kunst könnte jetzt Ausdrucksformen suchen, um diese neuen Sorgen und Ängste, die uns jetzt alle, kaum dass Corona hinter uns liegen könnte, befallen, miteinander zu teilen. Und uns gegenseitig Kraft zu geben. Wir müssen die Parole ‚NIE WIEDER KRIEG‘ neu mit Leben füllen. Gleichzeitig dürfen wir die kulturellen Brücken nach Russland auf keinen Fall abreißen lassen.“

Ukraine-Krieg: Thalia-Intendant ist "vollkommen erschüttert"

Für April steht ein Thalia-Gastspiel bei der Deutschen Woche in St. Petersburg an. „Falls möglich, soll das jetzt erst recht stattfinden“, betont Lux. „Und auch die Vorstellungen von ,Der schwarze Mönch’, die wir mit unseren russischen Freunden erarbeitet haben, sollen Anfang März stattfinden. Jetzt erst recht!“ Die Tschechow-Bearbeitung hat der russische Regisseur Kirill Serebrennikov inszeniert, der kurz nach einem langen Hausarrest überraschend für Proben nach Hamburg anreisen durfte. „Wir müssen aber natürlich vor allem Wege suchen, die Künstlerinnen und Künstler der Ukraine zu unterstützen“, fährt Lux fort. „Das wird sicherlich nicht leicht werden. Letztlich geht es darum, für unser aller Freiheit zu kämpfen. Und für die Freiheit der Künste. Letztlich kann man das Freiheitsstreben der Menschen nicht mit Panzern besiegen.“

Im Terminkalender der Elbphilharmonie sind derzeit drei Konzerte geplant, die Valery Gergiev dirigieren soll: Im April zwei Abende mit dem St. Petersburger Mariinskij-Orchester, mit Konfektionsware u.a. von Tschaikowsky, Mussorgsky und Strawinsky. Gergiev gilt seit vielen Jahren als Rückendecker von Putins Politik – und ebenso als tief verstrickt in oligarchische, dick vergoldete Strukturen. 2014 war Gergiev einer von 300 Künstlerinnen und Künstlern, die in einem Offenen Brief Putins Krim-Politik befürworteten; er verglich die Lage damals mit den Autonomiebestrebungen in Schottland und Katalonien. Und wirkte in Wahlwerbung für Putin mit. Vor diesem Hintergrund ist es jetzt, vorsichtig ausgedrückt: semantisch vielschichtig, dass Gergiev am 14. Mai, im Rahmen des Internationalen Musikfests, für die 7. Sinfonie von Schostakowitsch gebucht ist, mit den Münchner Philharmonikern, deren Chefdirigent er seit 2015 ist.

Gergiev und Netrebko in der Elphilharmonie

Ausgerechnet diese Siebente, jene Sinfonie, die der junge Komponist während der apokalyptischen Belagerung Leningrads durch die deutsche Armee zu Papier brachte. Die fertige Partitur wurde aus der Stadt ausgeflogen, bei der Premiere vor Ort im August 1942 spielte ein verzweifeltes, stolzes Orchester, dem Tod näher als dem Leben, diese Musik. Sie gilt einerseits als heroisches Fanal gegen den Faschismus. Andererseits – bei Schostakowitsch gibt es oft mehr als zwei Seiten einer Medaille – wollte er sie auch als Trauermusik für die Opfer des Stalinismus gedeutet wissen: „Ich trauere um alle Gequälten, Gepeinigten, Erschossenen, Verhungerten.“ Willkommen in der realsowjetischen, lebensgefährlichen Dialektik jener Jahrzehnte.

Das ist eine Dialektik, mit der Gergiev 2022 womöglich zu seinen und Putins Gunsten argumentieren würde, würde er sich auf dieses dünne Eis begeben. Momentan ist er auf USA-Tournee mit den Wiener Philharmonikern. Für dieses Wochenende waren drei Gergiev-Konzerte in der Carnegie Hall geplant. Sie wurden am Donnerstag allesamt abgesagt. Für Gergiev wird der Kanadier Yannick Nézet-Séguin einspringen.

Zudem wurde ein für Freitag geplantes Soloprogramm von Denis Matsuev gestrichen. Vor wenigen Tagen führte ein Auftritt des Pianisten in dem New Yorker Konzertsaal wegen Putins Säbelrasseln Richtung Ukraine zu Protesten. Auch Matsuev gilt als Gesinnungsgenosse Putins. Für Mitte Mai ist er auf der Gästeliste von Generalmusikdirektor Kent Nagano zu finden, für zwei Abo-Konzerte der Philharmoniker.

Ein weiterer potenziell heikler Fall sind die Residenz-Projekte, mit denen der Dirigent Teodor Currenztis und seine MusicAeterna-Ensembles aus St. Petersburg in die Elbphilharmonie kommen sollen. Auf dem Programm der Oster-Tage steht auch Beethovens Neunte. „Alle Menschen werden Brüder“.

Elbphilharmonie: Keine eigene Sanktionsstrategie entwickeln

Schon am kommenden Mittwoch wird dort Anna Netrebko für ein Gala-Konzert erwartet. Sie stammt aus dem südrussischen Krasnodar, hat seit 2006 auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Und sich mehrfach als Sympathisantin Putins positioniert.

Aus der Pressestelle der Elbphilharmonie hieß es gestern lediglich: „Das ist eine Krise im Weltmaßstab. Die EU und die Nato-Mitgliedsstaaten werden auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine abgestimmt und zeitnah reagieren. Die Elbphilharmonie wird keine eigene Sanktionsstrategie entwickeln, sondern sich in ihrem Handeln der Haltung und den Entscheidungen der Bundesregierung beziehungsweise des Senats der Freien und Hansestadt anschließen.“

Lyniv: „Nun hat die Welt Putin-Russlands wahres Gesicht gesehen"

Es kann auch anders und eindeutiger gehen: Der „Deutschen Welle“ sagte die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv: „Nun hat die Welt Putin-Russlands wahres Gesicht gesehen, das leider weit entfernt ist vom selbsterklärten Idealbild als Land der Kunst und des Humanismus.“ Der russische Dirigent Semyon Bychkov, Chef der Tschechischen Philharmonie, hat in Prag ein Statement veröffentlicht, in dem er Putins Invasion mit den Einmärschen der UdSSR nach Ungarn und in die Tschechoslowakei vergleicht. „Wir dürfen nicht still bleiben und zusehen, wie sich Geschichte wiederholt.“ Und auf dem Prager Konzerthaus Rudolfinum wurde die blau-gelbe Flagge der Ukraine gehisst.

Mailands Bürgermeister forderte die Scala auf, die Zusammenarbeit mit Gergiev bei der Neuproduktion von Tschaikowskys „Pique Dame" zu beenden, sollte er sich nicht klar gegen Putins Invasion aussprechen.