Hamburg. Ein Gespräch mit dem Pianisten über Klassiker und Jazzer, über Richard Wagner, Ronald Reagans Tochter und ein missglücktes Musical.

Wenn man Uri Caine als Musiker Arrangeur und Komponist stilistisch verorten sollte, dann ganz eindeutig: zwischen so ziemlich allen Stühlen.

Er hat Meisterwerke von Bach bis Mahler dekonstruiert ist Jazz-Pianist und kann auch mit R&B-Bands mithalten. Hauptsache, Abwechslung. Vor seinem Trio-Konzert in der Laeiszhalle sprachen wir über Klassiker und Jazzer, über Richard Wagner und Ronald Reagans Tochter.

Hamburger Abendblatt: Was macht mehr Spaß – das Spielen mit gedruckten Noten oder ohne?

Uri Caine: Kommt darauf an. Ohne ist alles total offen, wir verlassen uns dann auf die Interaktion. Für Projekte mit Arrangements oder Kompositionen sind Noten als Wegweiser völlig okay. Ich fühle mich dadurch nicht eingeengt.

Ich frage nur, weil ich mir vorstellen kann, dass es für rein klassische Musiker wahrscheinlich nichts Furchterregenderes gibt, als in einem Konzert keine Noten vor sich zu haben. Für Sie ist das Alltag, für die anderen ein Grund für sofortige Panik.

Caine: Auf jeden Fall muss man sich erst einmal daran gewöhnen. Wenn ich solche Situationen mit ihnen erlebte, sagte ich immer: Hört erstmal zu, wartet, bis vielleicht etwas passiert. Sie kommen einfach nicht aus dieser Kultur, die Jazzmusiker – oder lieber: Improvisatoren – ganz natürlich und normal finden.

Was ist Ihnen in dieser Hinsicht schon passiert?

Caine: Vor einigen Jahren bekam ich eine Einladung, Mozart-Klavierkonzerte zu spielen. Ich halte mich eigentlich nicht für einen klassischen Pianisten. Mit dieser Musik bin ich zwar aufgewachsen, aber ab dem Alter von 12, 13 Jahren wollte ich Jazzmusiker werden. Während ich also Mozart übte, stellte ich fest, dass es immer schwerer wurde. Sieht wie ganz einfache Musik aus, aber wenn man sich darauf einlässt… ich war in Panik. Mit den Kadenzen hatte ich mich überhaupt nicht beschäftigt. Als das Konzert anstand, war ich total nervös, was mir normalerweise nicht passiert. Es lieg halbwegs, einige kleine Fehler, es war respektabel. Doch als ich zur Kadenz kam, war es: Okay, boom, ab dafür! Es gab Applaus nach der Kadenz, aber nach diesem Auftritt sagte ich mir: So etwas werde ich nie wieder tun.

Sie wuchsen also mit Klassik auf, wurden Schüler des Komponisten George Crumb, spielten in Clubs in Philadelphia. Und Ihr Onkel gab Ihnen Alben von Miles Davis und John Coltrane…

Caine: … stimmt alles, aber die Chronologie stimmt nicht. Mit dem Klavier begann ich als Siebenjähriger, meine Geschwister spielten, meine Mutter spielte. Die Jazz-Alben bekam ich mit elf oder zwölf Jahren. Damals spielte ich Mozart – und meine Mutter rief aus der Küche: „DAS ist kein Mozart!“ Meine Klavierlehrerin hatte kein Interesse an Jazz, für sie war das keine ernsthafte Musik. Später begann ich zu komponieren und mein Lehrer ging mit mir verschiedene Stile und Formen durch, Bachs Wohltemperiertes Klavier, Chopins Préludes, Lieder von Schumann… Und mit 14, 15 spielte ich schon überall in Philadelphia.

Sie haben Aretha Franklin gehört, aber auch Avantgarde von Olivier Messiaen. Sehr eklektische Mischung. Warum ist es für so viele klassische Musiker so schwer, über ihren Tellerrand zu blicken?

Caine: Die Musiker, mit denen ich damals zu tun hatte, hatten zu allem starke Meinungen, sie waren sehr voreingenommen. Aber für mich war das gut! Ich fragte sie ständig: Was ist das gute Zeug, das ich mir anhören soll? Warum ist das so? Jeden Sonnabend sind wir mit dem Geld, das wir verdient hatten, in ein Plattengeschäft gegangen. Die Typen da warteten schon auf uns und sagten: Hey, ihr müsst euch Herbie Hancock anhören, oder diesen oder jenen. Es gab immer Ältere, die uns unterrichteten.

Worin besteht der Spaß, Vorlagen wie Bachs Goldberg- oder Beethovens Diabelli-Variationen oder Wagner auseinanderzunehmen und anders zusammenzusetzen? Es gibt ein Album, für das Sie Musik von ihm von einem Kaffeehausorchester auf dem Markusplatz in Venedig arrangiert und dort auch aufgenommen haben… so niedlich.

Caine: Der Spaß besteht auch darin, diese Musik zu analysieren. Mozart geht von a-Moll so und so weiter - was würde passieren, wenn ich das auch versuche, aber ohne, dass ich wie Mozart klinge? Durch das Klavier konnte ich mit all diesen Welten interagieren.

Und es hat Sie niemals ein klassischer Musiker gefragt, ob Sie eigentlich geisteskrank sind, weil Sie so mit diesen Heiligtümern umgehen?

Caine: Das passierte mir schon oft. Und ich kann das auch verstehen, weil auch ich leidenschaftlich bin, das eine mag ich, das andere nicht. Aber man muss sich selbst treu bleiben und vertrauen. Es geht ja auch um die Idee von Paraphrasen und Arrangements. Liszt arrangierte Beethoven, weil die Leute damals nicht einfach so in ein Konzert gehen und diese Sinfonien hören konnten, wie sie es heute können. Musik ist so heilig, dass sie unantastbar und unveränderbar ist? In der Improvisationskultur kümmert uns das nicht allzu sehr, weil wir es nun mal gewohnt sind, Dinge zu verändern.

Mal etwas ganz Praktisches: Klassische Pianisten sind oft extrem wählerisch, sobald es um das Instrument für einen Auftritt geht. Geht es Ihnen auch so, oder ist für Sie alles ok, was 88 Tasten hat und irgendwie funktioniert?

Caine: Eher das letztere, notgedrungen. Wenn man bei einer Tournee irgendwo ankommt und das Klavier nicht funktioniert, sagt man schon mal: Come on… Aber ich bin nicht gern derart pingelig, weil das für mich eher mit einer tieferliegenden Angst verbunden ist. Ich kann nicht gut spielen, weil das Klavier nichts taugt, das ist meine Ausrede? Nein! Besser wäre doch: Auch wenn das Klavier nichts taugt, nehme ich das nicht persönlich; ich denke nicht, dass ihr mich beleidigen wollt und Martha Argerich das beste Instrument bekommt. Darauf lasse ich mich nicht ein. Es ist, wie es ist und wir machen das Beste daraus. Eine Herausforderung! Und damit, auf perverse Art, auch Vergnügen.

Glauben Sie, dass Sie als Jazz-Musiker sich noch einem Dirigenten und einem ganzen Orchester unterordnen könnten? Dass Sie sich noch sagen ließen, was Sie tun oder lassen sollen?

Caine: Interessante Frage. Wann immer ich mit Dirigenten gearbeitet habe, die starke Persönlichkeiten waren und sobald ich es war, der das Stück geschrieben hatte, sobald das Orchester sah, dass ich spielen kann, änderte sich alles.

Ich schätze, Sie können Dirigenten wahnsinnig machen, weil Sie alles auf eine Weise spielen könnten – oder aber auf eine ganz andere.

Caine: Wissen Sie, was für die am schlimmsten ist: Wenn ich etwas einmal improvisiert habe, sie mich dann fragen, ob ich es beim zweiten Mal auch so spiele und ich antworte: Nein. Niemals. Ist so.

Gibt es tief in Ihnen noch den Wunsch, ein Beethoven-Klavierkonzert genau so zu spielen, wie es geschrieben wurde, mit einem regulären Orchester, mit Applaus? So zu sein wie all die anderen klassischen Pianisten?

Caine: Das ist mir so nie passiert. Beim Mozart damals habe ich monatelang geübt und am Ende fand ich es nicht so befriedigend. Ich kenne so viele dieser Pianisten, so viele sind alles andere alles andere als berühmt, obwohl sie es sein sollten. Das macht mich bescheiden. Von einem wie diesen Pianisten bekomme ich zu hören: Ich bin einer von 700 Pianisten, der diesen Beethoven spielen könnte. Aber wenn ich könnte, was Du kannst, einfach rauf auf die Bühne und improvisieren, dann hätte ich Konzerttermine. Während der Pandemie habe ich viele Lieder komponiert, zu Gedichten, die meine Mutter geschrieben hatte. Eine Sängerin, der ich sie schickte, meinte, ich sollte unbedingt den Klavierpart spielen. Aber ich meinte nur: vielen Dank, ich sitze lieber davor und höre zu, anstatt mich damit herumzuschlagen. Es gibt viele Formate, an denen ich mich versucht habe: Oper, Musical…

… und dann fuhren Sie sich fest? Fiel es Ihnen schwer, diese Träume wieder in die Schublade zu tun?…

Caine: Ich bin kein Teil dieser Welt, wie man es sein muss. Es war schwer, weil dieser Musical-Versuch wirklich brutal endete. Ich schrieb die Musik, wir nahmen sie mit vielen Sängerinnen und Sängern auf, es klang gut, dann begann die Suche nach dem Geld – und irgendwann kam jemand, der sagte: Wir bekommen das Geld nicht zusammen. Das müsste kommerzieller werden. Hier und da Änderungen, eine Liebesgeschichte, all diese Broadway-Zutaten... Nicht ich mit meiner Musik wurde kritisiert, sondern die Show als Ganzes. Das war eine echte Lektion.

Ich glaube, ich kenne eines ihrer dunkelsten Geheimnisse: Als Sie jung waren, spielten Sie bei einem der Bälle zur Amtseinführung von Ronald Reagan in Washington.

Caine: Das stimmt. Ich spielte damals mit einem Richter aus Philadelphia, ein guter Mann, ein Republikaner. Und dieser Richter wurde eingeladen, auf einem dieser Bälle zu spielen… überall diese betrunkenen Republikaner. Reagan selbst habe ich nicht gesehen. Dafür aber seine Tochter Maureen. Sie war so betrunken und leckte den Nacken des Manns vom Secret Service ab, mit dem sie tanzte. Und wir spielten dazu. Ich war 17 oder 18, und sogar der Richter fand diesen Anblick ziemlich heftig. Am Ende des Gigs sagten wir uns: So etwas machen wir nie wieder.

Das eine Stück, das Sie gern komponiert hätten?

Caine: Wow… viele. Strawinskys „Sacre du Printemps” vielleicht. Das studiere ich heute noch.

Sie sind Jude und haben sich auch mit der Musik des Antisemiten Wagner beschäftigt. Gab es darauf Reaktionen?

Caine: Ja. Und meine Antwort darauf: Ich weiß, dass er Antisemit war. Aber so bin ich Wagner nicht begegnet. Mein Klavierlehrer sagte, ich solle mir eine Partitur von „Tristan und Isolde“ besorgen und ihm sagen, welche Akkorde im Vorspiel stehen. Und dort sind, wenn man das so sagen möchte, viel Jazz-Akkorde zu finden, viele Verminderungen. Er sagte nur: check it out… Als der Zweite Weltkrieg endete, waren meine Eltern 18. Wie konnte man nach dem Holocaust jüdisches Leben fortsetzen? Ein Konzept: die hebräische Kultur. Meine Eltern sprachen nur hebräisch mit mir und meinen Geschwistern, wir lernten ein sehr shakespeare-artiges Hebräisch.

Und die Beschäftigung mit Wagner hat Ihnen keinen Ärger eingebracht?

Caine: Nein. Auf Wagners Musik lag in Israel ein Bann. Als Daniel Barenboim versuchte, sie zu dirigieren, kamen Holocaust-Überlebende mit ihren KZ-Tätowierungen und stellten sich vor die Konzertbühne. Und Barenboim sagte: Wagner ist Teil der Musikgeschichte. Das sehe ich auch so. Ich bin mir der jüdischen Geschichte sehr bewusst. Ich bin stolz, Jude zu sein, denn so wurde ich erzogen. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob das mehr bedeutet als Sätze wie: Ich liebe meine Mutter. Oder: Ich mag die Musik, die ich mit fünf hörte, als wir in die Synagoge gingen.

Gäbe es eine Wiedergeburt, für wen würden Sie sich entscheiden: den Jazzer Art Tatum oder den Klassiker Vladimir Horowitz?

Caine: Ich schätze, ich würde mich für Tatum entscheiden, abgesehen von seiner Blindheit. Ich mag auch Horowitz‘ Humor, er war ein sonderbarer Mann. Tatum hatte zwar seine Klischees und Formeln. Aber wenn er in einen Club kam, in dem Bud Powell spielte, sagte Powell nur: God is in the house. Also: Art Tatum.

CDs: Uri Caine “The Passion of Octavius Catto” (816 Music, ca. 11 Euro). „My Choice“ (Winter & Winter, ca. 17 Euro). “Wagner E Venezia” (Winter & Winter, ca. 15 Euro).