Hamburg. Die phoxxi-Ausstellung zeigt verstörende Arbeiten der Preisträger des renommierten fotografischen Nachwuchspreises. Die Hintergründe.
Es ist schon ein bisschen perfide, wie der Hamburger Fotograf Robin Hinsch das Publikum mit seinen ästhetischen Fine Art Prints in den Bann zieht, um es sogleich abzuschrecken und zu verstören: Seine Bilder entstehen an Unorten, dort, wo fossile Brennstoffe unter menschenunwürdigen Bedingungen zu jämmerlichen Löhnen abgebaut werden, damit der wirtschaftliche Wohlstand der westlichen Welt wächst und wächst.
Die Porträts und Landschaftsaufnahmen aus Hinschs Serie „Wahala“ (2020) entstanden auf Reisen nach Indien, Polen, Nigeria, aber auch nach Nordrhein-Westfalen und in die Lausitz. Sie zeigen erschöpfte Bergarbeiter, die sich in den Armen halten, verwaiste Landstriche, darin verlorene Menschen. Sehr eindrucksvoll ist das Bild einer schwarzen Frau, die sich ein silbern funkelndes Paillettenkleid vor den Körper hält.
Ausstellung Hamburg: Hinsch schon 2015 ausgestellt
Aus ihrem ernsten Blick spricht der Stolz, vielleicht aus ihrer ausweglosen, trostlosen Situation doch noch ein wenig Glamour herauszuholen. Daneben sehen wir einen Mann im Unterhemd, der mit dem Hammer ein schrottiges Auto bearbeitet, nachdem er es auf wiederverwendbare Teile hin ausgeschlachtet hat.
Hinschs Bilder sind Zeugnisse fortwährender Ausbeutung und Gewalt an Menschen, die in keiner Weise an denen von ihnen miterzeugten Reichtümern teilhaben. „Bilder aberwitzigen Raubbaus, apokalyptisch wie Dantes Inferno, von einer atemberaubenden, überwältigenden Ästhetik“, heißt es dazu in der Jury-Begründung. Hinsch war Student an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) und bereits 2015 mit einer Ausstellung in den Deichtorhallen vertreten.
Bewohner von Räumung und Vertreibung bedroht
Die Absolventinnen der Fachhochschule Bielefeld Tina Schmidt und Kerry Steen nehmen in „The Evidence of Jahalin“ (2020) die Spur der zuvor nomadisch lebenden Jahalin-Beduinen inmitten des Gebietes C des Westjordanlandes auf. Ihr Dorf ist auf keiner Karte verzeichnet, seine Bewohnerinnen und Bewohner sind demografisch nirgends erfasst.
Ständig bedroht von Räumung und Vertreibung durch die israelische Regierung, kämpfen die Jahalin-Beduinen um Bleiberecht und Anerkennung. Die Fotografinnen nähern sich in ihrem multimedial angelegten, fortlaufenden Archiv aus Bild-, Film- und Textmaterial diesem Leben an mit der Absicht, den Betroffenen Gehör und Sichtbarkeit zu verschaffen.
Gewinner legen Finger in die Wunde
Die diesjährigen acht Gewinnerinnen und Gewinner des renommierten Nachwuchspreises für Absolventinnen und Absolventen der Fotografie wurden von einer Jury aus über 70 Einreichungen ausgewählt. In der 17. Ausgabe von „gute aussichten. Junge deutsche Fotografie“, die erstmals im phoxxi zu sehen ist, legen sie den Finger in die Wunde; sie sehen genau dort hin, wo wir nicht hinsehen wollen oder sollen. Als „Seismograf, in dessen Ausschlägen das vielgestaltige Echo der aktuellen gesellschaftlichen und politischen, ästhetischen und medialen Diskurse widerhallt“, bezeichnet „gute aussichten“-Gründerin Josefine Raab die Werke.
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Conrad Veit hat in seiner Ausbildung an der Hochschule für bildende Künste in Braunschweig eine außergewöhnliche Filmidee entwickelt: In „Blastogenese X“ (2020) entwirft er ein Szenario, das neben überlieferten auch biologische Geschlechterzuschreibungen über Bord wirft. Zu sehen ist eine Performance fabelhafter Tier-Mensch-Wesen, die Balzverhalten, Zeugung, Geburt, Brutpflege und Raubverhalten in einer endzeitlichen, kargen Landschaftskulisse nachspielen (gedreht in Deutschland).
Apokalyptisches Schauern bei der Betrachtung
Mal wirken die Szenen wie ein skurriler Tanz, mal wie aneinandergereihte Stummfilmbilder. Dann wieder sind Geschrei und Geschnatter zu hören. Die Wesen, sie scheinen mutterseelenallein umherzuschreiten, scheinbar ziellos.
Als Zuschauer fragt man sich, ob es die ersten Wesen sind, die die Erde bevölkerten, oder die letzten einer aussterbenden Art auf einem für Menschen, Tiere und Pflanzen unbewohnbaren Planeten. Apokalyptisches Schauern stellt sich ein. Gebrochen wird die Anspielung auf gegenwärtige Genderdiskussionen durch eine slapstickartige Inszenierung der grandios kostümierten Figuren und die Ästhetik eines 16-mm-Schwarz-Weiß-Lichttonfilms, der immer wieder Kratzer und Spuren offenbart.
Ritchie entwickelte Sozialstudie mit eigener Familie
„Familie Ritchie“ hat die Berliner Fotografin Jana Ritchie ihre Langzeit-Serie genannt, die zwischen 2018 und 2020 entstanden ist. Darin entwickelt sie als älteste von drei Geschwistern mit unterschiedlichen Kameras eine Sozialstudie ihrer eigenen Familie, wobei der Vater stets abwesend ist. Mal sitzt die alleinerziehende Mutter Swenja mit ihren Töchtern Ina, Lilli und Jana vor einem Weihnachtsbaum, mal auf dem Fußboden in einem Ferienhaus. Familienporträts wechseln sich mit Einzelporträts ab, die Mimiken wirken statisch.
Ist es die permanente Abwesenheit von Fröhlichkeit, die aus den Bildern spricht und so die Lücke des männlichen Parts so deutlich macht, oder ist es das immer noch sehr in unseren Köpfen präsente Bild der Idealfamilie aus Mutter, Vater und Kindern? Was bedeutet es, in einem reinen Frauenhaushalt groß zu werden? Welche Konstellationen und Konflikte gibt es? Mit „Familie Ritchie“ ist ein spannendes Psychogramm gelungen, eine Art Zeitspeicher, der exemplarisch für eine ganze Gesellschaft steht.
„gute aussichten. Junge deutsche Fotografie“, 11.2.–1.5., phoxxi. Haus der Photographie temporär/Deichtorhallen (U Meßberg), Deichtorstraße 1–2, Di–So 11.00–18.00, jeden 1. Do im Monat 11.00–21.00, Eintritt 8,-/5,- (erm.), Kombiticket 13,-, www.deichtorhallen.de