Berlin. Die Berlinale-Chefs Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian sprechen über das Filmfestival in Omikron-Zeiten. Was sie erwarten.

Die Inzidenzzahlen befinden sich in rasanten Höhen. Der Scheitelpunkt für die Omikron-Variante wird für Mitte Februar prognostiziert. Da aber genau, nämlich am kommenden Donnerstag, startet die 72. Berlinale (10.–20. Februar).

Die Berlinale gehört zu den weltweit wichtigsten und größten Filmfestivals, und das soll, nach der digitalen Variante vor einem Jahr und dem Publikumsevent im Sommer, wieder ganz analog stattfinden. Wie das gehen soll und welches Unbehagen man dabei verspürt, darüber haben wir mit den Berlinale-Chefs, der Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und dem Programmleiter Carlo Chatrian, gesprochen.

Hamburger Abendblatt: Die Berlinale ist im Krisendauermodus. Wie erschöpft sind Sie, wie oft mussten Sie umplanen? Macht die Berlinale da überhaupt noch Spaß?

Mariette Rissenbeek: Das ist eine sehr gute Frage! Ich weiß nicht, wie viele Variationen der Berlinale wir schon wieder haben durchspielen müssen. Das ist für das Team wirklich eine große Herausforderung, nach jeder neuen Lage wieder bei null anzufangen. Als wir im September loslegten, sah es mit der fortschreitenden Impfkampagne und den Inzidenzen eigentlich gut aus. Das hat sich Ende November schlagartig geändert. Trotz dieser unberechenbaren Pandemiezeit finde ich eine Veranstaltung wie die Berlinale aber ganz wichtig. Weil wir der Meinung sind, dass dies ein wichtiger Aspekt im gemeinsamen Erleben von Kultur und Filmkultur ist. Das ist meine Triebfeder; das umzusetzen, ist mir sehr wichtig. Daraus schöpft man auch Kraft.

Der Höhepunkt der Omikron-Welle wird für Mitte Februar vorausgesagt. Wie groß ist da Ihr Unbehagen?

Rissenbeek: Ein Unbehagen ist in der jetzigen Lage immer da. Weil ja keiner weiß, was als Nächstes passiert. Wir stehen aber in einem stetigen regen Austausch mit den Gesundheitsbehörden. Dass der Peak Mitte Februar sein würde, wurde erstmals vor einer Woche kommuniziert. Diesen Aspekt konnte man davor nicht in die Planung einbeziehen. Wir werden auch einen roten Teppich ausrollen – natürlich unter strengen Hygiene- und Abstandsbestimmungen. So können wir Kinokultur leben und auch für ein wenig Festivalstimmung sorgen. Wir haben das Konzept mit allen zuständigen Behörden abgestimmt und hätten das nie weiter verfolgt, wenn die Gesundheitsbehörde gesagt hätte, das sei nicht vertretbar.

Carlo Chatrian: Sich in Meetings zu treffen ist riskanter. Deshalb haben wir entschieden, alles, was regen Austausch voraussetzt, ins Netz zu verlegen. Aber beim Filmfestival fokussieren wir vor allem auf die Vorführungen und reduzieren die Möglichkeiten spontaner Ansammlungen. Deshalb haben wir hier die Programmtage reduziert, deshalb dezentralisieren wir das Festival auch. Natürlich ist das eine Herausforderung. Aber wir sind uns dessen bewusst und glauben, das anbieten zu können.

Was passiert für den Fall, dass Corona in den nächsten Tagen ganz außer Kontrolle gerät? Wird das Festival dann online stattfinden – oder ausfallen wie Cannes 2020?

Rissenbeek: Eine Online-Variante wird es nicht geben. Die Filme, die wir akquiriert haben, könnten nicht einfach online gehen, weil sie unter anderen Bedingungen entstanden. Diese Filme brauchen auch eine Präsenz vor Ort, um für sich zu werben, sich dem Publikum zu präsentieren. Deswegen suchen sie ja ein Festival wie die Berlinale. Nein, eine Online-Planung haben wir zu keiner Zeit gehabt. Wenn der Fall eintreten würde, müsste die Berlinale tatsächlich ausfallen.

Man hätte glauben können, dass Filmemacher ihre Werke lieber später auf anderen Festivals zeigen, wenn die vierte Welle abgeflaut ist. Das Interesse ist aber nicht eingebrochen?

Chatrian: Die Einreichung der Filme ging ja übers ganze Jahr, wir haben damit im Sommer begonnen. Manche Filme haben wir schon im September eingeladen, andere erst im Dezember. Mein allgemeiner Eindruck ist aber, dass sowohl die Filmemacher als auch die Produzenten glücklich sind, auf der Berlinale vertreten zu sein. Es war sicher schwieriger als sonst, die Filmauswahl abzuschließen. Und sicher gab es in den letzten Wochen einige Filme, die wegen der verschärften Lage ihre Postproduktion ausgesetzt haben und so nicht rechtzeitig fertig wurden.

Haben Sie trotzdem einige wichtige Filme an Cannes oder Venedig verloren?

Chatrian: Natürlich bekommt man nie alle Filme, die man gern haben würde. Aber das liegt wohl mehr daran, dass einige Produktionsfirmen ihre Filmstarts nach hinten verlegt haben und auch ihre Premieren so planen. Aber das betrifft nur einen ganz schmalen Prozentsatz.

Wie viele Gäste werden wirklich nach Berlin reisen und ihre Filme präsentieren? Zumal sich Quarantänebestimmungen und Reisemöglichkeiten ja ständig ändern?

Chatrian: Bis zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir davon aus, dass die Teams von allen geladenen Filmen kommen, die Regisseure und in den meisten Fällen auch die Hauptdarsteller. Und wir sprechen hier auch über Filme aus den USA und Asien. Das wird eine Herausforderung, weil alle Länder andere Ein- und Ausreiseregelungen haben. Und manche Länder sind bei der Impfung noch nicht so weit vorangeschritten oder verwenden Vakzine, die in der EU nicht immer anerkannt sind. Es könnte also schon vorkommen, dass die Quarantäneregeln mancher Länder die Zahl der Gäste reduzieren könnten. Aber noch einmal: Wir waren überrascht, wie viel Zuspruch wir bekamen. Da ist ein ganz klares Verlangen spürbar, nach Berlin zu kommen.

Das Festival wurde von zehn auf sechs Tage reduziert. Dafür wird es vier Publikumstage geben. Wie groß, glauben Sie, wird das Interesse der Zuschauer sein?

Chatrian: Ich denke, der Zuspruch des Publikums wird sehr stark von der Lage und Schwere der Pandemie abhängen. Aber wir hoffen auf die Treue unseres Publikums und glauben, dass uns die Zuschauer folgen werden.

Angenommen, der Worst Case träte ein, Leute infizierten sich auf der Berlinale, das Festival würde zum Spreader-Event: Steht damit auch die Zukunft von Festivals auf dem Spiel? Bereits in den vergangenen Jahren wurde ja immer mehr diskutiert, ob Festivals in Zeiten der Digitalisierung noch zeitgemäß sind. Könnte sich diese Diskussion dann noch einmal verschärfen?

Rissenbeek: Aber das hieße ja am Ende, dass die ganze Kinokultur nicht mehr zeitgemäß wäre! Ich denke, ein Festival wie die Berlinale, das dem Publikum mit einem kuratierten Programm ein Angebot macht, sich mit Film auseinanderzusetzen, ist etwas grundlegend anderes, als wenn Menschen sich daheim allein vor dem Computer anschauen, was gerade zu streamen ist. Auf die Berlinale geht man auch, um sich überraschen zu lassen und sich auszutauschen. Ich glaube nicht, dass man das durch eine Online-Nutzung von Filmen ersetzen kann.

Chatrian: Festivals in Europa, ob in Cannes, Venedig oder Berlin, könnten nicht einfach online gehen. Weil sie Teil eines Systems sind, das auf Aufführungen in Theatern ausgerichtet ist. Es geht da nicht nur um unsere Wünsche, sondern auch darum, was die Produktionsfirmen, die uns ihre Filme zur Verfügung stellen, damit beabsichtigen. Einige Studios etwa haben ihre Filme vom Sun­dance Festival zurückgezogen, als sie erfuhren, dass das Festival diesmal nur online stattfindet. Nicht weil sie gegen das Festival sind, sondern weil ihre Filme nicht dafür passen. Wenn Festivals keine sozialen Events mehr wären, wäre das ein Paradigmenwechsel mit weitreichenden Folgen.