Hamburg. Starregisseur Kirill Serebrennikovs Fassung von Tschechows Novelle „Der schwarze Mönch“ feiert Premiere am Thalia Theater.
Es gibt Sätze – und auch Bilder – die meißeln sich wie mit einem Granithammer ins Hirn. „Der Wahnsinn ist der kürzeste Weg zur Weisheit, zur Schönheit, zum Ideal“, das ist so ein Satz. Er fällt so oder ähnlich mehrfach in Kirill Serebrennikovs Bühnenfassung von Tschechows „Der schwarze Mönch“. Die Inszenierung und der Regisseur ihrer Uraufführung haben selbst allerlei wahnwitzige Volten des Lebens und der Politik hinter sich gebracht.
Dieser gut dreistündige Abend im Thalia Theater über Tschechows Novelle von 1893 ist in mehrfacher Hinsicht ein Theaterwunder: Überbordend, leidenschaftlich, expressiv, düster. Voller grandioser Bilder und hingebungsvollem Spiel eines internationalen Ensembles, musikalischen Pathos – und Tanz.
Serebrennikovs „Der schwarze Mönch“ feiert Premiere im Thalia Theater
Die schmale Erzählung beleuchtet Serebrennikov viermal hintereinander aus unterschiedlichen Perspektiven, in klugen Variationen und mit hemmungsloser Fabulierlust. Zunächst erzählt der Gärtner Pessozkij vom Besuch seines früheren Pflegesohnes Kowrin, eines emotional instabilen Künstlers.
Minutenlang kann sich Bernd Grawert in den Pflichten und Freuden des Gärtnerns ergehen und dabei die Bedürfnisse seiner Mitmenschen vollständig ausblenden. Die Bäume und Sträucher sind ihm auch ein Symbol für die Menschen. „Hohe Bäume gehen häufiger ein.“ Sie brauchen besonderen Schutz. „Die Halbstämme haben Angst vor nichts.“
Nur ein Halbstamm, also Durchschnitt und Mittelmaß, will, kann Mirco Kreibichs Andrej Kowrin nicht sein, jener Wissenschaftler, den Serebrennikov zum Künstler umdeutet. Er ist zu Höherem berufen. Doch er ist gestresst. Das Landleben scheint die gereizten Nerven mit den italienischen Gesängen der Nachbarn und den Zusammenkünften im Glashaus zu entspannen. Drei von ihnen hat Serebrennikov selbst aus Holz mit Plastikfolien bespannt auf der Bühne errichten lassen, die sich im Laufe der Episoden verwandeln, bis alles der Zerstörung anheimfällt.
Thalia Theater: „Frei zu sein bedeutet, der Wahrheit zu dienen“
Kowrin versucht so etwas wie Normalität. Er heiratet die nach Selbstbestimmung strebende Gärtnerstochter Tanja, gespielt von der feinnervigen russischen Schauspielerin Viktoria Miroshnichenko (bekannt aus dem Film „Beanpole“). Sie will der Land- und Vater-Enge und den Gummistiefeln entfliehen und landet in der Hölle einer Künstler-Ehe.
Und die nimmt einen tragischen Verlauf. Kowrin erleidet auf seinen langen Spaziergängen Wahnvorstellungen, in denen er Musik hört und einen ominös raunenden schwarzen Mönch aus einer alten Legende trifft, der sein Ego weiter befeuert und endgültig dem Größenwahn verfallen lässt. Die Versuche, den Wahn zu kurieren, vernichten erst die Ehe und schließlich auch das Künstler-Genie.
Kreibich gelingt ein irrlichternder Kowrin, an beiden Enden brennend, größter Euphorie und zugleich schlimmster Melancholie ausgeliefert. Es folgen ungebremster Narzissmus, Ich-Verlust. Tod. Und doch stirbt er im Bewusstsein der eigenen Genialität – lächelnd. Tschechow spickt diese knappe Handlung mit Gedanken über Auserwähltsein und Genie-Kult, Verachtung von Mittelmaß und Herdentrieb, Abstumpfung, Absterben. Ständig liest man Bezüge zum Schicksal des Regisseurs heraus. „Frei zu sein bedeutet, der Wahrheit zu dienen“, lautet einer von ihnen.
"Der schwarze Mönch" wird immer finsterer
Wenige Umbauten später erklingt die gleiche Geschichte aus der Sicht Tanjas, Kowrins und schließlich des schwarzen Mönchs. Im zweiten Teil bleibt Miroshnichenko die stumm agierende Vision einer vom Leben desillusionierten älteren Tanja, die Gabriela Maria Schmeide düster ins Mikrofon spricht. Als Kowrin glänzt nun der reifere Odin Biron mit kühler Exzentrik.
Der Regisseur schöpft in jeder Erzählrunde aufs Neue alle Theatermittel aus. Auf der Bühne herrscht ständig Bewegung, erklingt Musik, überwältigen kosmische und nebulöse Visualisierungen. Kowrin filmt sich selbst mit dem Mobiltelefon und erscheint in einer runden Projektion, auf der man wie durch ein Schlüsselloch in seine gebeutelte Seele blickt.
Es gibt Zartheit und Intimität, dann wieder große Tableaus, in denen das Ensemble ehrfürchtig zu sakraler Chormusik den Sonnenaufgang anbetet. Die Geschichte ist von Anfang an dunkel, aber wird immer finsterer. Beim rastlos über die Bühne jagenden Philipp Avdeev sind Lebensgier und Sinnenrausch am extremsten entfesselt. Am Ende sitzt er halb nackt mit schwarzer Farbe besprüht im Elend und fragt verzweifelt: „Ich hatte Halluzinationen, aber wen stört das?“
Die Welt ist voller Mysterien und Wunder
Immer leerer wird die Bühne, die Folien sind längst zerrissen, die Holzbalken wie Gerippe aufeinandergetürmt. Es schlägt die Stunde des schwarzen Mönchs, den Gurgen Tsaturyan als tiefstimmige Geistererscheinung vor einem Spalier aus dunkel gekleideten Mönchen (Kostüme: Tatyana Dolmatovskaya) gibt.
Die Szenerie löst sich immer weiter auf. Bis im vierten, letzten Akt dieses Rondos vier fantastisch expressive Tänzer im furiosen Finale aus Loslösung, Freiheit und Ekstase über die Bühne wirbeln. Am Ende ist „Der schwarze Mönch“ vor allem eine Huldigung der Kunst als unser aller – unbequeme – Retterin, Trösterin, Befreierin, Sinnstifterin – zumal, wenn das Leben zum Kerker wird.
- Gesucht: Kulturprojekte für Kultursommer am Kanal
- Uwe Timm: „Beim Schreiben geht es um Macht“
- Kino, Kunst, Konzerte – die Tipps der Woche
Die Welt ist voller Mysterien und Wunder. Eines führt dazu, dass der lange durch Hausarrest und Reiseverbot drangsalierte russische Regie-Star den Triumph seiner Uraufführung und die minutenlangen Ovationen anlässlich des internationalen Festivals „Um alles in der Welt – Lessingtage 2022“ persönlich entgegennehmen kann. Ein Theaterereignis dieser Wucht, Bedeutung und Größe erlebt man auch in Hamburg nicht alle Tage. Das muss man gesehen haben.
Die Folgevorstellungen am Thalia Theater heute (24.1.) und morgen (25.1.) müssen wegen einer Erkrankung im Ensemble leider kurzfristig abgesagt werden. Weitere Infos für Karteninhaber über www.thalia-theater.de
Weitere Vorstellungen: 12.2., 15 Uhr, 13.2., 17 Uhr, 4.3., 19 Uhr, 5.3., 19 Uhr, 6.3., 15 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; Weitere Informationen: www.thalia-theater.de