Hamburg. Mit ihrem Roman „Der Geschmack von Apfelkernen“ erfand die Autorin ein neues Genre – das hat sie nicht immer glücklich gemacht.
Es gab diesen einen Anruf bei Katharina Hagena, der alles änderte. Kiepenheuer und Witsch war dran, der Verlag aus Köln. Er fragte fernmündlich: Dürfen wir Ihr Buch machen?
Das muss man sich vorstellen. Eine Literaturwissenschaftlerin und James-Joyce-Expertin, die, wie das in diesen Fällen oft so ist, vor sich hin schrieb und nun nicht damit rechnen konnte, dass ein solch renommierter Verlag ihre Erlaubnis erbat! Es war jedenfalls eine überraschende Wortwahl, mit der die angehende Romanveröffentlicherin konfrontiert war.
Autorin: Katharina Hagena schrieb aus Versehen einen Bestseller
Hagena, heute 54 und eine gestandene Autorin, lacht beim Gedanken an den Beginn ihrer Schriftstellerinnenlaufbahn. Und um zu ermessen, warum sie jetzt und hier, an einem herrlichen Tag im Nienstedtener Hirschpark, an dem das äußere Setting sowieso dazu angetan ist, zufrieden auf den eigenen Werdegang zurückzublicken, so fröhlich ist, wenn sie an jenen entscheidenden Moment zurückdenkt, muss man wissen: Für Hagena war dieses Telefonat wahrscheinlich der eine prominente Augenblick, in dem sie reine Freude empfand.
Das erwartet man nicht unbedingt, im Gegenteil. Es muss doch alles ein einziger Rausch gewesen sein in jenem Jahr 2008 und in der Zeit unmittelbar danach. Als „Der Geschmack von Apfelkernen“ erschien, der Roman, der Hagena nicht nur zur Autorin, sondern gleich zur Bestsellerautorin machte. Die Geschichte von Iris und ihrer norddeutschen Familie verkaufte sich wahnsinnig gut. Und wurde in 26 Sprachen übersetzt. Bis heute ging der Roman anderthalb Millionen Mal über den Ladentisch. Ein Riesenerfolg, den die meisten Autorinnen und Autoren nie haben.
Über das Verlangen und Begehren einer Autorin
Nun wäre es falsch zu denken, dass Hagena („Meine Familie sagt, ich spinne“) nicht dankbar wäre für diesen frühen Erfolg. Sie hadert nur manchmal mit der Rezeption dieses einen Buchs. „Der Geschmack von Apfelkernen“ hat ihr die auch finanzielle Freiheit gegeben, als freie Schriftstellerin zu arbeiten. Es gab nach dem Hit ja noch zwei weitere, sehr literarische und dennoch an den Menschen interessierte, wenn man das mal so sagen darf, Romane: Man muss das können, über Menschen schreiben und dabei ans Gefühl des Lesers appellieren, ohne Schmelz aufzutragen oder Abgeschmacktheit zu erzeugen. „Vom Schlafen und Verschwinden“ und „Das Geräusch des Lichts“ waren solche Romane; „Der Geschmack von Apfelkernen“ aber im Grunde auch schon.
In dem angenehm dahinfließenden Gespräch, in dem es um den Beruf der Schriftstellerin, in dem es um eine neue familiäre Unabhängigkeit, auch um neue Projekte, um vorübergehend abgelegte Projekte und das Singen geht, wir kommen insbesondere darauf zurück, ist als Unterströmung oft ein Verlangen nach mehr zu spüren. Was das uneinlösbare Begehren einschließt, die Kontrolle zu behalten – vor allem darüber, wie die eigenen Bücher gelesen werden. „Man kann nicht steuern, wie andere ein Buch aufnehmen“, sagt Katharina Hagena.
Von den Buch-Rezensionen merkt man sich die eine schlechte
Das Thema dieses Textes ist die Ambivalenz des Erfolgs. Ein klassischer Topos. Erwartungen, die andere an einen haben. Noch schlimmer, Erwartungen, die man selbst an sich hat. Eine Cousine von ihr, berichtet Hagena, sei Psychologin. Mit ihr habe sie sich mal unterhalten.
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Und was diese Spezialistin für das menschliche Seelenleben – Schriftstellerinnen sind dies übrigens auch, nur anders – ihr erzählte, ist doch sicher ein Schlüssel für genau diesen Berufsstand der Autorinnen und Autoren, die nach Anerkennung lechzen und unter Buchbesprechungen furchtbar leiden können. Hagena („Von Amazon kriege ich Depressionen“) kennt es auch, das Suchen nach Kundenrezensionen. Man merke sich die eine schlechte, sagt sie. Wenn jemand etwas Gutes sage, denke man: Jaja, du bist eben nett, „aber man hört vor allem bei denen genauer hin, die die Stirn runzeln und kritisch sind“.
Neues Buch: „Herzkraft. Ein Buch über das Singen“
Die Psychologin hat ihr die evolutionsbiologische Logik dieses Verhaltens erklärt. Zu gucken, wo die Gefahr lauert. „In den Kampfmodus schalten“, wie Hagena das nennt. Man weiß an dieser Stelle nicht, ob sie dabei über das allzu Menschliche ihres eigenen Verhaltens lacht oder darüber, dass am Ende auch alle Selbstreflexion nicht hilft. Die wenigsten Schriftsteller lässt das, was über sie geschrieben wird, kalt.
Im Februar wird ein neues Buch von Katharina Hagena erscheinen, ein ziemlich tolles, das wissen wir jetzt schon. Es reicht halt schon der Titel, um das festzustellen. „Herzkraft. Ein Buch über das Singen“ – ein ultraschönes Wort, und dann die Erläuterung. Das Buch ist eine Liebeserklärung von einer, die weiß, über was sie hier mit kulturgeschichtlicher Expertise schreibt, und vor allem, wie sich diese Herzkraft anfühlt. Hagena singt selbst im Chor.
„Ich empfand mich nie als Bestsellerautorin“
Der Essayband mit zugehörigem Hörbuch wird sich bei Weitem nicht so oft verkaufen wie „Der Geschmack von Apfelkernen“. Und ist das nicht genau die perfekte Kombination, Blockbusterbücher und kleine, feine Titel daneben, Liebhaberstücke für die Nische? Wie war eigentlich das Leben als Bestsellerautorin, Katharina Hagena?
„Ich empfand mich nie als Bestsellerautorin“, sagt Hagena. Und dann erzählt sie ein paar Dinge, die man unbedingt amüsiert zur Kenntnis nimmt. Zum Beispiel, dass in den vielen Monaten, als ihr Debüt gekauft wurde wie blöd, im Zug etwa immer nur Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ gelesen wurde, der andere Knallertitel jener Zeit. Dass die Kritiken nur bis zu einer bestimmten Anzahl verkaufter Bücher freundlich waren und danach das Gegenteil davon. „Nachdem 100.000 Bücher weg waren, kippte das“, erinnert sich Hagena. So ist das in Deutschland: Gigantischer Mainstreamerfolg ist einerseits faszinierend, andererseits verdächtig. Die Reflexe des so häufig zwischen E und U unterscheidenden Feuilletons jedenfalls sind in ihrer Vorhersehbarkeit auch lachhaft.
Nach den „Apfelkernen“ bekam Hagena einen Freifahrtsschein
Man würde nun gerne wissen, wie lustig es Hagena damals noch fand, als sie von einer Frauenzeitschrift nach ihrem liebsten Apfelkuchenrezept gefragt wurde. Jetzt, viele Jahre später, berichtet sie beschwingt von dieser Geschichte, die man sich besser nicht ausdenken könnte. Und völlig überraschend ist ihr Hinweis, dass der Verlag ihren Titelvorschlag zunächst ablehnte. Man ging eigentlich davon aus, dass „Der Geschmack von Apfelkernen“ zum einen in seinem superpopulären Angang einem Verkaufshirn entsprungen sein muss. Und zum anderen für nicht wenige der später verkauften Bücher direkt verantwortlich war.
Der Verlag, der diesen perfekten Titel dann doch durchwinkte, ist derselbe, der Hagena danach einen Freifahrtsschein ausstellte. „Du hast uns so viel Geld verdient, du kannst jetzt fürderhin Dadaromane schreiben“, habe ihr damaliger Verleger zu ihr gesagt, berichtet Hagena. Und die hat sie natürlich nicht geschrieben, dafür zwei tiefschürfende, anspruchsvolle, aber nicht komplizierte Nachfolgeromane. Sie wusste jedoch, dass sie Leute enttäuschen würde, die auf noch mehr „Apfelkerne“ gehofft haben. „Es gibt trotzdem Verbindungen zwischen meinen Büchern, ich betrachte sie inhaltlich und ästhetisch als natürliche Fortschreibungen meines Debüts.“
Katharina Hagena erfindet das „Obstgartengenre“
Katharina Hagena, die großartige Erzählerin aus Hamburg-Blankenese, ist die Frau, der ihr Superbestseller einfach unabsichtlich unterlaufen ist. Manchmal denke sie, es sei vielleicht besser gewesen, „ich hätte meine ‚sperrigen‘ Bücher zuerst geschrieben“, sagt Hagena.
Was sie damit meint, ist, dass die so ehrenwerte Kritik ihr formales Bemühen der späteren Bücher nicht anerkannt hat, weil sie wegen ihres frühen Erfolgsbuchs voreingenommen war. Was durchaus sein kann, aber vor allem ein Licht auf die Borniertheit jener Kritiker wirft.
Werde ich als Künstlerin verstanden, oder doch nur als Kunsthandwerkerin? Das ist eine Frage, die einen umtreiben kann, wenn man so ehrgeizig ist wie Katharina Hagena. Als bloße Unterhaltungsautorin kann sie nur derjenige sehen, der ihr erstes Buch irrtümlich in genau das Genre einordnet, das Hagena wohl wirklich erfunden hat. Sie nennt es selbst das „Obstgartengenre“, eine Romangattung, die tatsächlich seit „Der Geschmack von Apfelkernen“ populär ist – Familienromane abseits der Urbanität. Landlust und so. Buchcover, Buchtitel, Themen: Die Ähnlichkeit vieler nachfolgender Romane war frappierend. „Aber das Original war keine Schmonzette“, sagt Hagena trocken.
„Beautifully phrased, artful and sometimes ingenious“
Mit ihren Büchern hat sie auch ein Publikum im Ausland gefunden. Man sollte sich die Rezensionsschnipsel – aus Amazon! – zu „The Taste of Apple Seeds“ durchlesen, um festzustellen, dass Hagena viel, viel, viel auch vom süßen Geschmack des Erfolgs gekostet hat. „Beautifully phrased, artful and sometimes ingenious“ heißt es da zum Beispiel, „manchmal genial“ also, Da kann man nicht motzen. Besonders gerne gelesen wird sie in Frankreich und Italien. Auftritte dort seien, erklärt Hagena, etwas sehr Schönes.
Sie hat mehr Kapazitäten jetzt für ihre literarische Karriere, wo nach dem Sohn, der seit einiger Zeit in Hagenas süddeutscher Heimat studiert, sie stammt aus Karlsruhe und hat den badischen Dialekt noch drauf, auch die Tochter nach ihrem Abi so gut wie aus dem Haus ist. „Früher schaffte ich Familie und Bücher gerade so“, sagt Hagena.
Katharina Hagena: Ihre Bücher brauchen „eine starke Dringlichkeit“
Eine Schriftstellerin aus Hamburg hat mal gesagt, sie habe immer ein bisschen Angst vor Katharina Hagena, „weil die so klug ist“. Die Gemeinte reagiert belustigt auf dieses Zitat und findet, dass sie dann ja alles „richtig gemacht“ habe, „schlau zu erscheinen gehört natürlich zum teuflischen Plan“. Wenn sie gleichzeitig sagt, dass sie Lust hat, an Debatten teilzunehmen, dann ist das unbedingt eine gute Nachricht.
Es gibt ja viel zu besprechen, zum Beispiel, was die Geschlechterfrage angeht. Katharina Hagena, die von sich sagt, sie fühle sich ohnehin dann schon als durchaus politische Autorin, wenn sie über Frauen in der Gesellschaft schreibe, kennt das Gefälle im Literaturbetrieb, den unterschwelligen Sexismus. „Wie anders und wie viel seltener Schriftstellerinnen im Feuilleton wahrgenommen werden, wie nur ihnen attestiert wird, sie seien – offenbar wider Erwarten – ‚ja gar nicht kitschig‘“, sagt sie. Und später fügt sie hinzu, am Ende ihrer engagierten, leidenschaftlichen Rede über das Glück ihres Bestsellers, das manchmal auch ein Pech war, dass jedes Buch, das sie schreibe, „eine starke Dringlichkeit“ brauche.
Dringlichkeit ist nie verkehrt, und irgendwie schmeckt sie halt manchmal auch. Nach Apfelkernen.