Hamburg. In seinem neuen Buch – das auch „Streitschrift“ heißt – bürstet Klaus von Dohnanyi in der außenpolitischen Debatte gegen den Strich.

Klaus von Dohnanyi hat mehrere Bücher verfasst – „Das Deutsche Wagnis“ über die Folgen der Einheit oder „Im Joch des Profits?“ als deutsche Antwort auf die Globalisierung. Nun hat sich der 93-Jährige den „Nationalen Interessen“ gewidmet – ein Buch, das nicht ohne Grund „Streitschrift“ heißt.

Was hat Sie motiviert, das Buch zu schreiben?

Klaus von Dohnanyi: Ich beschäftige mich mit unseren Beziehungen zu den USA und den Folgen für Europa seit vielen, vielen Jahren. Der Auslöser für dieses Buch war mein Gefühl, dass sich die Ukraine-Frage gefährlich zuspitzen könnte.

Sie waren unter Hans-Dietrich Genscher Staatsminister im Auswärtigen Amt. Hat Sie die Außenpolitik nie losgelassen?

Klaus von Dohnanyi: Mich hat die Politik insgesamt nicht losgelassen. Innen- und Außenpolitik gehören eng zusammen.

Welches Problem in diesen unruhigen Zeiten bereitet Ihnen die größten Sorgen?

Klaus von Dohnanyi: Der Klimawandel ist die größte Herausforderung. Wir spüren schon jetzt die Folgen, und es wird schwierig und teuer werden, das Land davor zu schützen. Außenpolitisch bereitet mir am meisten Sorgen, dass Europa nicht in der Lage ist, zu seiner eigenen Sicherheit eine eigene Meinung zu formulieren. Emmanuel Macron hat jetzt einen Impuls gesetzt, und ich hoffe, dass ihm viele folgen werden.

Sehr kritische Worte finden Sie über die US-Politik – dabei sind Sie dem Land, in dem Sie studiert und gearbeitet haben, eng verbunden ...

Klaus von Dohnanyi: Ich bin Freund und in mancher Beziehung auch Bewunderer der USA. Aber gerade deshalb bin ich besorgt: Sie können mit militärischer Gewalt oder ökonomischen Sanktionen die Welt nicht nach ihrem Geschmack bauen. Sollten die USA das jetzt mit China und in Asien versuchen, wird es gefährlich.

Sehen Sie die Europäer als Opfer der amerikanischen Supermachtpolitik?

Klaus von Dohnanyi: Die USA haben uns von den Nazis befreit. Das bedeutet aber nicht, dass sich unsere geostrategischen Interessen decken. Ich halte ihre derzeitige Strategie nicht für durchdacht – die USA müssten ein zentrales Interesse an einem Ausgleich mit Russland haben. Denn nun rückt Russland, 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges, an die Seite der Volksrepublik China und wird ihr militärischer Alliierter! Nach Auffassung nicht nur zahlreicher Botschafter der USA in Moskau war die Nato-Osterweiterung hierfür eine wesentliche Ursache.

Warum hat der Westen nicht früher erkannt, dass es über den Beitritt der Ukraine zur Nato zu einer gefährlichen Krise kommen könnte?

Klaus von Dohnanyi: Man hat es ja gesehen! Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, schrieb in seinem Buch „Welt in Gefahr“ deswegen schon vor vier Jahren: „Die Frage einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist im Bündnis de facto längst negativ entschieden worden.“ Aber warum hat das die Nato dann nicht längst förmlich verkündet? Warum lässt der Generalsekretär der Nato, Jens Stoltenberg, im Juni 2021 den Nato-Rat noch einmal ausdrücklich entscheiden, die Ukraine werde Mitglied der Nato? Ist er nur das Megafon US-amerikanischer Interessen? Stoltenberg hat damit das Veto Putins geradezu eingeladen! Seinetwegen ist der Westen nun in einer schwierigen Prestige-Situation. Ein Mann, der so wenig strategisch denken kann, gehört nicht an einen so verantwortungsvollen Posten.

Sie werben für eine „neue Entspannungspolitik“ mit Russland. Halten Sie diese angesichts der zunehmenden Radikalisierung des russischen Präsidenten Putin für realistisch?

Klaus von Dohnanyi: Ich sehe keine Radikalisierung bei Putin. Ich sehe eher die konsequente Verfolgung seines Ziels, wieder ein Faktor in der Weltpolitik zu werden. Je mehr wir Russland in die Enge getrieben und je weniger wir respektiert haben, dass auch die Russen Interessen haben, desto „radikaler“ ist Putin geworden. Erinnern wir uns an seine Rede 2001 im Deutschen Bundestag – damals gab es für seine Ausführungen Standing Ovations. Nein, der Westen hat Putin auf die Seite Chinas gedrängt, wie ja auch der heutige CIA-Chef von Biden 2019 schrieb.

Auch im Umgang mit China raten Sie zur Zurückhaltung. Warum?

Klaus von Dohnanyi: Ich rate zu Realismus. Was können wir denn in China wirklich ändern? Wir können uns von dort zurückziehen – aber um welchen wirtschaftlichen und politischen Preis? Wir werden die Volksrepu­blik nicht im Kern verändern. Da halte ich es mit Gottfried Benn: „Erkenne die Lage, rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.“

In den vergangenen Jahren haben wir die Rückkehr einer bipolaren Welt erlebt – der Westen auf der einen, China und Russland auf der anderen Seite. Wäre es klug, dass Europa und Deutschland dabei eigene Wege gehen?

Klaus von Dohnanyi: Wir müssen unsere Interessen selbst in die Hand nehmen. Willy Brandt hat gesagt: Ostpolitik beginnt im Westen. Also müssen wir uns bemühen, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass Feindschaft mit Russland nicht im Interesse des Westens liegt.

Sie fordern, dass Europa seine eigenen Interessen verfolgen soll. Wo liegen diese genau?

Klaus von Dohnanyi: Die internationalen Interessen Europas sind äußere Sicherheit und eine wettbewerbsstarke Wirtschaft. Nur so gewinnen wir wieder Gewicht in der Welt.

In Ihrem Buch betonen Sie, ein ökonomisch erfolgreiches Deutschland sei im europäischen Interesse …

Klaus von Dohnanyi: Ja, sicher. Würde die deutsche Wirtschaft schrumpfen, hätte das negative Auswirkungen auf Europa. Wir müssen wettbewerbsfähig bleiben. Aber ich bezweifele, dass die Europäische Kommission das versteht. EU-Parlament und Kommission betreiben zu viel Gleichmacherei. Europas Stärke besteht aber in seiner Vielfalt.

Eine europäische Einigung hin zu einem Zentralstaat lehnen Sie ab. Warum?

Klaus von Dohnanyi: Wir sind heute 27 Staaten mit 24 Sprachen. Das Zusammenführen von so verschiedenen Völkern in einem Bundesstaat nach Muster der USA ist eine Illusion. Andere Länder können doch nicht über Fragen entscheiden, die für eine Nation von essenzieller Bedeutung sind. Was wäre denn, wenn eine Mehrheit im Europäischen Parlament entschiede, dass Deutschland zur Atomkraft zurückkehren soll? Ein europäischer Verfassungsvertrag ist schon einmal an Frankreich gescheitert.

Ausgerechnet für Ungarn und Polen bringen Sie Verständnis auf – schwingt da auch ein wenig die Lust mit, Dinge gegen den Strich zu bürsten?

Klaus von Dohnanyi: Nein, mir sind der Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit in Europa wichtig. Das Weimarer Dreieck mit Polen, Frankreich und Deutschland ist für mich bedeutender als die Frage, wie Polen seine Justiz organisieren will. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik hat 2015/16 eine umfassende Studie zu Ungarn veröffentlicht und kam auch nicht zu einem nur negativen Ergebnis.

Verharren wir zu oft in einem Freund-Feind-Schema?

Klaus von Dohnanyi: Viele weichen nicht gerne von einer einmal öffentlich etablierten Meinung ab. Da braucht man etwas Mut und Zivilcourage. Leider haben damals alle über Ungarn geredet, aber niemand hat die Studie gelesen – bis in die Spitze des Auswärtigen Amtes.

Ist uns die Lust an der Debatte vergangen?

Klaus von Dohnanyi: Wir streiten durchaus, aber wir gehen den Dingen oft zu wenig auf den Grund. Manchmal muss man den kindlichen Mut des Märchens haben und einfach sagen: „Der Kaiser ist doch nackt!“ Als ich vor einigen Jahren schon einmal über die Thesen meines neuen Buches schrieb, nannte mich der „Spiegel“ einen „Putin-Versteher“. Das habe ich als Lob verstanden – ohne Verstehen keine Vernunft!

Gibt es andere Themen, wo der Kaiser nackt dasteht – aber niemand das auszusprechen wagt?

Klaus von Dohnanyi: Ja, beim Klimaschutz. Deutschlands Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß beträgt weniger als zwei Prozent. Wir werden die Welt nicht retten, wenn andere Länder nicht mitziehen. Auch Europa wird das 1,5-Grad-Ziel für die Welt nicht alleine schaffen. Wäre es dann nicht klüger, auch Russland ökonomisch und klimapolitisch zu helfen? Ist China als „moralischer Feind“ nun klimapolitisch kooperativer?

Bekommen Olaf Scholz und Annalena Baerbock eigentlich ein signiertes Exemplar?

Klaus von Dohnanyi: Aber natürlich. Zwar weiß ich nicht, ob Frau Baerbock es gerne lesen wird – aber ich werde es ihr schicken, so wie auch Olaf Scholz, Wolfgang Schmidt und manchen Bundestagsabgeordneten.