Hamburg. In dem Buch von Matthias Brandis geht es um das Schicksal der Wohlwills und Dehns. Wie Angst und Machtlosigkeit die Leben bestimmten.
Es ist eines dieser Bücher, die gleichermaßen erschüttern und fesseln – und die man nach dem Lesestart kaum noch aus der Hand legen kann: Die Geschichte zweier jüdischer Familien – Wohlwill und Dehn – erzählt Matthias Brandis in seinem Buch „Meines Großvaters Geige“.
Brandis, Jahrgang 1939, ist der Enkel des Chemikers Heinrich Wohlwill (1874-1943), der bis zum Beginn der NS-Zeit eine leitende Stellung bei der Norddeutschen Affinerie innehatte. Dessen Frau Hedwig, Brandis` Großmutter, war eine geborene Dehn, und entsprechend eng sind die Verbindungen des Autors zu beiden Familienzweigen.
NS-Zeit in Hamburg: Familientrukturen auseinander gerissen
Brandis beschreibt eindringlich, wie tief seine Vorfahren schon seit dem frühen 19. Jahrhundert im Stadtgefüge verankert waren – als erfolgreiche Bürger, die sich auf vielfältige Weise engagierten. Auch eine musische Ausbildung gehörte stets dazu – die im Titel angesprochene Geige des Großvaters, der auch ausgezeichnet Bratsche spielte, macht das deutlich.
Die vielen Fotos zeigen Brandis’ schon lange assimilierte Ahnen: Menschen, die sich in Hamburg wohl und sicher fühlten – echte Patrioten. Doch nach der NS-Machtübernahme änderte sich alles. Auf eine zunehmende Ausgrenzung folgten auch hier Entrechtung und Verfolgung.
Von 1933 an wurden die Familienstrukturen völlig auseinander gerissen. Zahlreiche Angehörige flüchteten und versuchten Neustarts irgendwo auf der Welt, zum Teil unter schwierigsten Bedingungen. Brandis schreibt vom „schrecklichen Ende einer großen Illusion“. Doch nicht alle konnten damals das Land verlassen.
„Meines Großvaters Geige“ – von Angst und Deportation
Der den Familienmitgliedern auferlegte Zwang, sich in Hamburg weiter unauffällig zu verhalten und so gut wie möglich durchzukommen, nahm Formen an, die unendlich traurig stimmen. Ein Beispiel: Matthias Brandis’ älterer, mittlerweile verstorbener Bruder Albrecht berichtete erst im Jahr 2010, dass er die Großeltern Wohlwill 1942 als Zehnjähriger noch einmal gesehen hatte.
Seine Schilderung: „Ich spielte auf der Straße mit einem Nachbarsjungen, der plötzlich sagte: ,Schau mal, da kommen zwei Juden.’ Ich drehte mich um und sah, dass es meine Großeltern mit Judenstern am Revers waren, die den Weg von Alsterdorf nach Barmbek zu uns zu Fuß gegangen waren, da sie öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzen durften. Ich hatte Angst, verleugnete mich und spielte weiter. Diese Erinnerung hat mich mein ganzes Leben lang gequält.“
Gemeinsam mit dem betagten Ehepaar werden schließlich auch Hedwig Wohlwills Schwester Marie und ihr Schwager Heinrich Mayer nach Theresienstadt deportiert, auch Heinrichs Schwester Sophie wird dorthin verschleppt. Nur Hedwig kommt schließlich lebend zurück, allerdings stirbt sie schon 1948 knapp 71-jährig, gezeichnet von der Zeit im Lager und „stark verändert“, wie es in der Familie hieß.
Briefe und Postkarten von den Wohlwills
Besonders erschüttern die Postkarten, die von den Wohlwills an ihre Tochter Margarete Brandis (1911-1990) aus Theresienstadt geschrieben wurden. Einerseits sind die Grüße sehr liebevoll, andererseits werden alle Informationen über den Aufenthalt so sachlich und zum Teil fast positiv beschrieben, als sei die Post an einem Ferienort abgeschickt worden, der die Erwartungen nicht erfüllte. Das wirkt so, als hätte sich das alte Ehepaar mit dem Schrecklichen abgefunden, faktisch wollten die beiden die zurückgebliebene Familie aber offenkundig schlichtweg nicht beunruhigen.
Hinzu kam, dass Briefe und Postkarten kontrolliert wurden und nur allgemeines geschrieben werden durfte. Warum Margarete Brandis selbst der Deportation entgehen konnte, ist völlig unklar. Ihr Sohn Matthias hat es trotz aufwendiger Recherche nicht ermitteln können. Dass eine Lücke in der Bürokratie ihre Rettung war, glaubt Brandis nicht. Er vermutet eher, dass die Familie, sein Vater war Arzt in Wilhelmsburg, aufgrund irgendwelcher Kontakte in Funktionärskreise geschützt wurde, sicher ist aber auch das nicht.
Von der Machtlosigkeit, die Eltern nicht retten zu können
Es gehört zu den vielen tragischen Elementen dieser Familiengeschichte, dass Margarete Brandis nie mit ihrem Sohn über all diese Dinge gesprochen hat. Die ihm völlig unbekannten Postkarten aus und nach Theresienstadt fand er 1990 in ihrem Nachlass – verstaut in einer Brieftasche.
Das Gefühl der Machtlosigkeit und ein unausgesprochenes Schuldbewusstsein hätten sie zeitlebens belastet, vermutet Matthias Brandis im Gespräch mit dem Abendblatt, „Meine Mutter fühlte sich schuldig, ihre Eltern nicht gerettet haben zu können.“ Das Buch macht überdeutlich, wie Opfer sich auf diese Weise letztlich wie Täter fühlen mussten.
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Das Andenken an die Familien Wohlwill und Dehn wird in Hamburg heute auf vielfache Weise bewahrt. Matthias Brandis Buch ist eine wertvolle Ergänzung dazu. Brandis, emeritierter Ärztlicher Direktor der Uni-Kinderkliniken Marburg und Freiburg, möchte seine Familiengeschichte als Zeitzeuge weitergeben, gerne auch vor Schülergruppen.
Noch ist es Zeit dafür.