Hamburg. Für die Nazis waren sie nutzlos – und so starben viele an Hunger und Vernachlässigung. Nun soll ihnen ein Denkmal gesetzt werden.

Sie ist in Hamburg geboren, gequält und getötet worden. Die kleine Walentina Beretschnoj kämpfte ihr Leben lang, doch konnte sie ihre Widersacher nicht besiegen. Die Nazis waren zu mächtig. Und so starb das Mädchen im Alter von fünf Monaten und zwölf Tagen an „Pädatrophie“, dem schlimmsten Grad einer Ernährungsstörung. Anders ausgedrückt: Es war Mord durch Verhungernlassen. Dahinter steckte ein System: Walentina stammte, wie viele andere Kinder, von einer Zwangsarbeiterin ab. Eine Tatsache, die oft vorzeitig in den Tod führte.

In Hamburg erinnern nur wenige Grabsteine an diese Kinder. Es scheint, als hätte man die meisten vergessen. Doch der Schein trügt. Im „Garten der Frauen“ auf dem Ohlsdorfer Friedhof soll voraussichtlich im März ein Glaswürfel an die toten Säuglinge und Kleinkinder der Zwangsarbeiterinnen erinnern. Auf 248 bunten Plättchen werden jeweils Name und Alter eines Kindes eingemeißelt, darunter auch der von Walentina. Ein weiteres soll an das Schicksal der Mütter erinnern.

NS-Verbrechen: Löhr recherchierte Biografien der Kinder

Die Organisatorinnen des Gartens gehen von Gesamtkosten in Höhe von rund 24.300 Euro aus. Für den Rest­betrag wird die Bezirksversammlung Hamburg-Nord aufkommen. Die Abgeordneten stimmten Anfang Dezember für die Anträge zur Gewährung von Sondermitteln von Grün-Rot und der FDP. Nun bittet der Verein „Garten der Frauen“ um Spenden für eine Informationstafel, die vor dem Würfel aufgebaut werden und erklären soll, wer sich hinter den Plättchen verbirgt.

Die Kurzbiografien der Kinder recherchierte die Psychologin Margot Löhr. Im Doppelband „Die vergessenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Hamburg“ gibt sie die Lebensdaten wieder, die sie aus Listen von Krankenhäusern, Meldekarteien, Friedhofsplänen und Standesämtern gesammelt hat. Sieben Jahre lang brauchte die heute 72-Jährige, bis sie die wichtigsten Informationen in großen Ordnern zusammenhatte.

Margot Löhr erhielt Bundesverdienstkreuz

Für ihr Engagement erhielt sie im November das Bundesverdienstkreuz – und doch trägt sie es nicht zur Schau. Sie mag nicht herausstechen, will niemanden beiseitedrängen und schon gar nicht für etwas belohnt werden, was sie als ihre Pflicht ansieht. „Eine Selbstverständlichkeit“, sagt sie. Unerbittlich erinnert Löhr an die NS-Zeit, nennt Opfer und Täter beim Namen, bewahrt das Schicksal der kleinen Walentina, der anderen Kinder und deren Mütter in Erinnerung.

Die 72-Jährige sitzt in ihrem Wintergarten in Fuhlsbüttel. Sie blickt auf die großen Ordner auf dem Tisch vor ihr, blättert immer wieder darin, um Biografien nachzuschlagen. Alle voll mit Akten aus dem Staatsarchiv, darunter Grablisten und Schwarz-Weiß-Fotos. Sie zeigen Geburtsurkunden von Kindern, deren Todesurteil schon vor ihrer Geburt geschrieben war.

Walentina auf Ohlsdorfer Friedhof begraben

Im „Garten der Frauen“ soll ein Erinnerungswürfel für Säuglinge von Zwangs- arbeiterinnen in Hamburg in der NS-Zeit entstehen.
Im „Garten der Frauen“ soll ein Erinnerungswürfel für Säuglinge von Zwangs- arbeiterinnen in Hamburg in der NS-Zeit entstehen. © Garten der Frauen e.V.

Löhr zufolge hatten die Nazis Walentinas Eltern aus Russland verschleppt und in Langenhorn bei der Hanseatischen Kettenwerk GmbH zur Zwangsarbeit verpflichtet. Sie mussten getrennt voneinander im „Ostarbeiterlager Tannenkoppel“ leben.

Als Walentina am 3. Juni 1944 im Krankenhaus Alsterdorf zur Welt kam, hatten Mutter und Tochter nur wenige Tage zusammen, bevor sie zurück ins Lager mussten. Wenige Wochen später war Walentina so unterernährt, dass sie mit einer Verdauungsstörung ins Krankenhaus Wintermoor kam. Dort blieb sie drei Monate. Danach überlebte sie nur noch wenige Tage im Lager, wurde schließlich ins Allgemeine Krankenhaus Langenhorn eingeliefert, wo sie am 15. November starb. Ihr Leichnam wurde auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestattet. Das Grab ist heute allerdings nicht mehr erhalten.

Die Nazis wählten für Walentina den Hungertod

Margot Löhr sagt, Walentina muss ein starkes Mädchen gewesen sein. Denn die Schwerstarbeit der Mütter bis zur Geburt, das wenige Essen und die fehlende medizinische Versorgung in den Lagern hätten bewirkt, dass die Neugeborenen oft nur wenige Tage alt wurden, manchmal auch nur Stunden. „Da ist es schon erstaunlich, wenn ein Säugling fünf Monate alt wird.“ Mehr noch: „Der frühe Tod war voraussehbar und einkalkuliert. Die Nazis haben ihn billigend in Kauf genommen, denn in ihren Augen waren diese Kinder nutzlos im System der menschenverachtenden Zwangsarbeit“, sagt Löhr, „die Mütter dagegen, meist verschleppte Frauen aus Polen und der Sowjetunion, waren billige Arbeitskräfte.“

Wie Löhr in ihrem Buchband schreibt, waren den Verantwortlichen die Zustände sehr wohl bekannt. Das zeigt ein Schreiben vom SS-Gruppenführer Erich Hilgenfeldt an Heinrich Himmler, den Löhr zitiert. Zwar beschreibt er nur die Zustände in einer „Ausländerpflegestätte“ in einem Spital am Pyhrn, doch lassen sie sich laut Löhr gut übertragen. Sie gingen „offensichtlich selbst hartgesottenen National­sozialisten zu weit“, schreibt sie.

Hilgenfeldt beschwerte sich bei Himmler

So beschwerte sich Hilgenfeldt, dass die Säuglinge der sogenannten Ostarbeiterinnen unterernährt, kaum lebensfähig waren. Ihm zufolge bekamen sie einen halben Liter Vollmilch und eineinhalb Stücke Zucker am Tag. Doch das wenige Essen hielt sie immerhin länger am Leben, was für ihn paradox war. Er schrieb an Himmler:

Zum Teil ist man der Auffassung, die Kinder der Ostarbeiterinnen sollen sterben, zum anderen Teil der Auffassung, sie aufzuziehen … Es gibt hier nur ein Entweder-oder. Entweder man will nicht, dass die Kinder am Leben bleiben – dann soll man sie nicht langsam verhungern lassen und durch diese Methode noch viele Liter Milch der allgemeinen Ernährung entziehen; es gibt dann Formen, dies ohne Quälerei und schmerzlos zu machen. Oder man beabsichtigt, die Kinder aufzuziehen, um sie später als Arbeitskräfte verwenden zu können. Dann muss man sie aber auch so ernähren, dass sie einmal im Arbeitseinsatz vollwertig sind.“

Gezielte Euthanasie durch „Aktion Brandt“

Löhr vermutet, dass es den Nazis leichter fiel, nicht hinzusehen, die Säuglinge lieber vegetieren zu lassen, als sie aktiv zu töten. Sie vermutet, das Personal in den Krankenhäusern hätte gar nicht über konkrete Entscheidungen nachgedacht. Es habe sich gar nicht informieren wollen. „Wegschauen war die Möglichkeit, um nicht an Verantwortung zu kommen“, sagt sie. Ein trügerisches Gefühl, denn letztlich war es systematischer Mord an Babys und Kleinkindern. Darauf deutet auch die „Aktion Brandt“ hin.

Karl Brandt war Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen. Im Zuge der gleichnamigen Aktion ließ er von 1943 an gezielt Patientinnen und Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten durch gezieltes Vernachlässigen, Verhungernlassen oder eine Überdosis an Medikamenten ermorden. Stempel in etlichen Sterbeurkunden beweisen, dass unter den Opfern auch Babys und Kinder waren. Sina Paratschenko war eine von ihnen.

Todesbescheinigung deutet auf Mord hin

Ihre Mutter brachte Sina am 21. Dezember 1944 zur Welt. Auch sie war aus ihrer Heimat, der Ukraine, verschleppt worden und lebte wie Walentinas Mutter im Zwangslager Tannenkoppel. Keine zwei Monate nach Sinas Geburt lag der Säugling mit einer Verdauungsstörung und Lungenentzündung im Ausweichkrankenhaus Wintermoor. Dort starb das Mädchen am 3. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation Hamburgs. Ein Zufall? Löhr kann nur mutmaßen.

Fest steht, dass die Todesbescheinigung den Aufdruck „Aktion Brandt“ vorweist. Er deutet darauf hin, dass das Baby getötet wurde. Auch lässt er Raum für Spekulation: Zum Beispiel hätten die Ärzte Sina mit einer Überdosis an Medikamenten töten, ihren ausgezehrten Körper loswerden und Beweise über die schlechten Lebensbedingungen vernichten können. Zumal der Ort ihrer Beisetzung nicht bekannt ist.

SS-Mann über Tötung: „Das war ’n Geheimbefehl!“

Einen weiteren Hinweis auf das aktive Töten der Säuglinge bietet der Fall um den „Knaben mit dem Nachnamen Dubova“. Er erblickte im Januar 1945 das Licht der Welt. Einen Vornamen konnte seine Mutter ihm jedoch nicht geben. Er starb wenige Minuten nach der Geburt. Zeuginnen berichten, dass der SS-Mann Walter Kümmel den neugeborenen Jungen in einem Wasserkübel ertränkt, anschließend in einen Abfallkübel geworfen und von einer Totgeburt gesprochen habe. Im Hamburger Sterberegister sind Geburt und Tod nicht vermerkt. Ohne die Berichte wäre das Verbrechen an dem Jungen in Vergessenheit geraten. Kein Grabstein und keine Gedenktafel erinnern an ihn.

Schon im Monat zuvor hatte es einen ähnlichen Fall gegeben. Als Kümmel 1982 vor Gericht kam, wurde er aber von beiden Morden freigesprochen. Das Gericht begründete, es seien keine niedrigen Beweggründe nachweisbar – außerdem seien die Verbrechen bereits verjährt. In einer Fernsehsendung äußerte sich Kümmel später zu den Anschuldigungen und sagte, dass es keine Möglichkeit gegeben habe, die Kinder unterzubringen. Wörtlich: „Deshalb haben die ja schließlich auch drauf gedrungen, die sollten umgebracht werden, die Kinder. Das war ’n Geheimbefehl!“

NS-Verbrechen: Mahnmal soll an die Kinder erinnern

Ob es nun ein Geheimbefehl war, ob die Kinder aktiv ermordet oder sich selbst überlassen wurden, ändert nicht viel am Ergebnis. Sie alle starben durch die Hand der Nazis, die sie anschließend oftmals in anonymen Massengräbern beerdigten. Und die wenigen Grabsteine, die heute noch die Gräuel bezeugen, werden den Verstorbenen nicht gerecht.

„Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns die Namen wieder ins Gedächtnis rufen“, sagt Löhr, „das gelingt uns mit dem geplanten Erinnerungswürfel im ,Garten der Frauen‘.“ Und so bekommen der namenlose Knabe, Sina, Walentina und all die anderen Kinder schon bald eine eigene Tafel auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Sie dienen als Mahnmal, als Erinnerung an die Geschichte.

Margot Löhr: „Die vergessenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Hamburg“. Der Doppelband ist im Infoladen der Landeszentrale für politische Bildung (Dammtorwall 1) gegen eine Pauschale von 3 Euro pro Band erhältlich.