Hamburg. Der Dirigent kann bereits auf beeindruckende Karriere zurückblicken. Ein Gespräch über Tempo, Träume und Herausforderungen.

Drei Posten, kreuz und quer über Europa verteilt. Eine Karriere, die rasant begann und ein Lebenslauf mit vielen Überraschungen. Omer Meir Wellber, in einer südisraelischen Wüstenstadt am Rand der Negev-Wüste aufgewachsen, ist in der weiten Welt der Klassik angekommen und mischt sie nun als Dirigent - gern und so oft es gerade geht – leidenschaftlich auf.

Hamburger Abendblatt: Wann wussten Sie zum letzten Mal nicht, was Sie mit sich anfangen sollten?

Omer Meir Wellber: Die letzten zwei Jahre waren so, dass ich und wir alle in diesem großen Moment des Zweifelns sind. Es hat aber mehr Positives als Negatives, finde ich, weil wir, in meiner kleinen musikalischen Welt, sehr kreativ waren.

Und wo ist Ihr Akkordeon?

Wellber: Ich habe gerade ein neues gekauft. Eines ist in Palermo, eines in Tel Aviv und eines in Dresden.

Wie kommt man als kleiner Junge in Israel dazu, Akkordeon spielen zu wollen?

Wellber: In meiner Heimatstadt Be’er Sheva haben wir eine große Akkordeon-Tradition. Es kamen viele Emigranten, aus Rumänien, Russland, Deutschland... Auch alle großen Mandolinen-Spieler sind aus Be’er Sheva, aus unserem Konservatorium. Im Akkordeon-Orchester, 70 Kinder, haben wir Beethovens „Eroica“ gespielt oder mit Shlomo Mintz das Mendelssohn-Violinkonzert. Also: Man kann, darf soll, auch Akkordeon spielen. Aber: Man muss Akkordeon spielen! (lacht)

In Ihrem Wikipedia-Eintrag steht, auf den ersten Blick ziemlicher Blödsinn, vielleicht aber auch ganz richtig: „Wellbers Interpretationen zeichnen sich durch einen Spagat zwischen genauer Beachtung der Partitur und einer oftmals extremen Auslegung einzelner Passagen aus.“

Wellber: Das ist die große ethische Frage, in der ich wohne: Wie viel Freiheit? Wirklich toll in meinem Beruf ist die Lücke zwischen Freiheit und ihrem absoluten Gegenteil. Was heißt ein Forte, was eine Achtelnote, was eine Viertelnote? Ich mag es sehr, etwas undogmatisch zu sein. Ich benütze für ein Stück verschiedene Schlüssel in verschiedenen Momenten. Celibidache, fantastisch!, aber er hatte einen Schlüssel, der für ihn für bei jedem Stück in jedem Takt funktionierte. Ich benütze nur, was schön ist. Ich bin jetzt 40, ich kann machen, was ich schön finde.

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Sie haben zunächst Komposition gelernt und sind zum Unterricht mit dem Bus eine Stunde durch die Wüste zu ihm in seinen Kibbuz gefahren. Nie Zweifel gehabt und gedacht, dass sagen wir: ein Physikstudium auch schön sein könnte?

Wellber: Nein. Als ich 12 oder 13 war, hat eine große Musikschule in Tel Aviv gefragt, ob ich zu ihnen kommen will. Meine Eltern waren wirklich sozialistisch eingestellt, für meinen Vater war es undenkbar, dass sein Sohn in einer „reichen“ Stadt auf eine „reiche“ Schule geht. Gottseidank, denke ich heute, ich habe auf einer normalen Schule studiert, mit normalen Leuten, mit normalen Problemen, viele Sprachen, viele Ideen. Alles kompliziert. Das spielt bis heute eine sehr große Rolle. Und ich habe immer gearbeitet.

Als was?

Wellber: Alles. Musik natürlich, aber auch Zauberer, Geburtstagsparties, Kartentricks… das waren so meine Wochenend-Jobs.

Israel ist ein kleines Land, gerade im Musikbereich kennt wahrscheinlich jeder jeden. Eine Karriere geht dann schneller als woanders?

Wellber: Das wechselt immer. Es ist immer auch eine politische Frage. Was passiert genau in Israel? Gestern vielleicht ein Terror-Anschlag, morgen Netanjahu… Wenn ein Deutscher in Brasilien dirigiert, stellt niemand politische Fragen. Bei mir passiert es immer.

Wenn es mit dem Zaubern, dem Komponieren und dem Akkordeon so toll war – wie sind Sie dann an den Taktstock gekommen?

Wellber: Nach dem Militär wollte ich zur Akademie in Jerusalem und habe mich gefragt: Weiter bei Michael Wolpe komponieren lernen oder vielleicht ein neuer Lehrer? Ich probierte jemand anderen und der war wirklich… schlecht, in dieser Zeit hatte er viele Probleme, das war wirklich ein Alptraum. Jeder Kompositionsstudent musste auch einen Grundlagenkurs im Dirigieren belegen. Das hat gut geklappt. Und mein Lehrer dort meinte: Warum bleibst Du beim Komponieren? Komm zu mir.

Und dann sind Sie Assistent von Daniel Barenboim geworden. Wie wird man das und wie viel Angst hat man dann?

Wellber: Ich war Residenzdirigent an der Israeli Opera und er hatte gehört, dass es da jemanden gibt. Dann habe ich, wie alle anderen, eine Audition gemacht. Angst? Ja. Aber Angst ist nicht oben auf meiner Liste gewesen. Ich hatte immer gedacht, dass ich 24 Stunden am Tag in der Musik wäre. Und dann kommt jemand wie Barenboim und es gibt in seinem Tag 27 Stunden, und seine musikalische Botschaft ist so groß. Das ist dann vielleicht der erste Schock. Und es ist ein großes Gefühl, in so einem musikalischen Imperium zu tun zu haben. Die Qualität ist sehr wichtig, kein Kompromiss, niemals.

Nach dieser Zeit haben Sie die „Galeerenjahre“ eigentlich übersprungen und sind gleich eine Karriere-Stufe höher eingestiegen. War dieses Tempo für Sie ok?

Wellber: Ja. Ich bin generell im Leben schnell. Für mich ist es quasi immer langweilig, sofort. Ich brauche immer etwas Neues. Und mit Barenboim gibt es immer etwas Neues.

Der Schnelldurchlauf: Sie waren Chef an der Oper in Valencia, und den Posten haben Sie bekommen, ohne dort vorher je dirigiert zu haben…

Wellber: … Ja, das war Lorin Maazels Idee. Er hat gesagt, das ist mein Nachfolger…

… und niemand hat sich getraut, nein zu sagen…

Wellber: Ja.

Im März 2018 waren Sie Gastdirigent beim BBC, im Oktober 2018 sind Sie Chef geworden. Dann erster Gast an der Semperoper, ein Orchester in Israel. Musikdirektor am Teatro Massimo in Palermo, ein riesiges Haus, und im nächsten Jahr kommt ein Chefposten an der Wiener Volksoper dazu. Und den Job wollten Sie eigentlich gar nicht, Sie waren nur beim Vorstellungsgespräch, um gepflegt abzusagen. Normal ist das alles nicht, oder?

Wellber: Ich weiß nicht. Bis März war ich in einer Phase, in der alles wunderbar lief. Dann habe ich mich gefragt, was ich die nächsten zehn Jahre machen will. Gastdirigate? Oder zwei, drei richtige Adressen, BBC, Palermo, Wien? Ich fand es interessant, das zu probieren. Und jetzt dirigiere ich nur meine Orchester, nur die mit den größten Freundschaften. Die letzten zwei Prozent kann man immer nur mit einem eigenen Orchester richtig erreichen.

Werden wir mal grundsätzlicher: Wie politisch ist das, was Sie tun?

Wellber: Leider sehen wir, gerade mit dem Corona-Thema: Heute ist alles Politik. Wenn ein Künstler sagt, ich dirigiere meine Musik, ist das ein bisschen naiv und schade. Und mit Politik meine ich: Was bedeutet es? Alles bedeutet etwas.

Was bedeutet es dann, wenn ein Dirigent aus Israel in Dresden an der Semperoper arbeitet, vor der einmal in der Woche Demos von Pegida- oder AfD-Anhängern auflaufen?

Wellber: Leider eine täglich zu stellende Frage. In Dresden bin ich seit 2010. Am Anfang waren es nur 200, 2016 und 2016 waren es Tausende. Meine Wohnung ist am Altmarkt, die waren unten. Einmal hat meine Mutter angerufen und draußen war wirklich Krieg. Sie fragte, was los war. Ich antwortete: Es ist Montag. Was kann ich sagen, es ist kompliziert… Bei einer „Salome“-Probe im Operngraben war es im Haus so ruhig, dass wir alle die Demo am Opernplatz gehört haben. Statistisch sind in unserem Haus acht oder neun Prozent Pegida, bei dem Orchester also: zehn Musiker. Ich finde, das ist sehr gut. Genau das ist die Rolle des Theaters. Einfach zu sagen: Die haben nicht recht, das sind Tiere – das ist falsch.

Und wenn Sie dann auf einer dieser Demos jemanden sehen, mit einem gelben Stern am Mantel, auf dem „Ungeimpft“ steht?

Wellber: Dumme Leute hatten und haben wir immer. Wir müssen etwas anderes erzählen, wir müssen weitergehen. Ich war bei vielen Pegida-Demonstrationen, das interessiert mich sehr. Ich will hören, was sie sagen. Und ich finde, dass das Theater auch mehr machen könnte. Ignorieren ist wirklich ein Problem. Ich hätte viel stärker die Türen geöffnet. Eine künstlerische Antwort ist immer besser.

Sie haben auch mit einer anderen Stadt zu tun, in der es ganz andere Spannungen gibt: Palermo auf Sizilien. Dort haben Sie für ein Neujahrskonzert mit dem Opernorchester in der Stadt nach Musikern aus Syrien und Afrika gesucht, Sie haben ein solches Konzert der queeren Community gewidmet. Sie sind also richtig an die Kante gegangen.

Wellber: In Palermo ignorieren wir die politische Situation. Wir geben Antworten und zeigen unsere Ideen. In Dresden sind wir etwas zu objektiv. Jeder kennt das Thema Mafia in Palermo, ein anderes ist die Religion. Sie können da relativ katholisch sein, aber auch extrem offen. Eine Transgender-Person in einem Konzert zu haben, das ist nicht ganz normal, andererseits aber auch doch. Niemand sieht das als große Provokation an. Es gab einen Zeitpunkt in Italien, als wirklich alle Türen zugemacht wurden. Nur in Palermo war alles offen, das hat auch der Bürgermeister so verkündet. Alle Emigranten waren auf Sizilien. Ok, dachte ich, machen wir ein Konzert mit Musikern aus Afrika, Syrien, etc. Machen wir ein Palermo-Konzert, denn Palermo heißt nicht nur Pizza oder Mafia. Und das war ein großer Erfolg beim Publikum.

Wann haben Sie aufgehört, an sich zu zweifeln? Oder haben Sie schon als Kind gesagt: Ich weiß, wie das alles geht?

Wellber: Ich weiß nicht, wie das alles geht. Was ich weiß: Wollen ist gut, machen ist besser.

Haben Sie nie Angst, dass Ihre Kerze wirklich überall brennt und nicht nur an beiden Enden?

Wellber: Ich könnte auch Angst haben, aber es ist schon zu spät. Dafür bin ich Teil einer zu großen Struktur. Energie habe ich, das ist grundsätzlich kein Problem. Gerade jetzt habe ich einige Probleme, ich hatte im letzten Monat Corona, es ist ein bisschen schwer, ich bin etwas müde… Wenn jemand mich etwas fragt oder mir eine Idee vorstellt, dann spüre ich sofort, was ich machen muss.

Mich regt schon hin und wieder auf, was ich in der Klassik-Branche so alles erlebe, dieses traditionelle Schubladen-Denken. Sie, mit Ihrer Mentalität, müssten doch achtmal täglich wahnsinnig werden.

Wellber: Ein kleines Detail nur: Ich habe keine eigenen Partituren. Niemals. Jedes Mal kaufe ich eine neue und lasse sie dann beim Orchester. Weil ich finde, dass es sehr schade wäre, immer wieder aus derselben Partitur zu dirigieren. Jetzt dirigiert ich hier beim NDR Beethovens Vierte, zuletzt hatte ich die im Februar 2020 mit dem Gewandhaus in Leipzig gemacht. Nun, mit der neuen Partitur, habe ich verschiedene Sachen im Herz und im Kopf, die ich schon gemacht habe. Aber die sind dort, nicht mit Bleistift in der Partitur. Die sind stärker. Und ich kann mich heute fragen: Will ich das, will ich das nicht? Diese Bleistift-Notizen, die sind schon eine automatische Reaktion. Ich will immer wieder entscheiden!

Sie wollen sich die Freiheit erhalten, immer wieder neue Fehler machen zu können.

Wellber: Ja, und ich will dieses Gefühl weiter erleben, das von einem Konzert zum nächsten etwas in mir bleibt, nicht in den Noten. Etwas, das ich habe. Für mich ist das besser. Immer neu.

Wie sehr haben Sie sich schon mal bei einem Orchester blamiert, mit dieser Art von Arbeitsphilosophie?

Wellber: So etwas ist passiert, dann war es eben das erste und das letzte Mal, schön. So oft war es nicht, ich habe Glück gehabt. Einen regelrechten Clash hat es nie gegeben.

Gibt es Musik, die Sie sehr gern anderen überlassen?

Wellber: Absolut, ja: Strawinsky, Berlioz – nicht alles. „Symphonie fantastique“ habe ich früher dirigiert, jetzt nicht mehr. Ich brauche wenigstens einen Takt, bei dem ich etwas im Herzen spüre. Manchmal habe ich zehn, manchmal 100, aber Null kann ich nicht.

Sind Sie vor Konzerten der erste, der schon an der Bühnentür steht, weil er es einfach nicht abwarten kann? Oder haben Sie Lampenfieber?

Wellber: Lampenfieber habe ich nicht, aber ich hasse dieses Warten! Ich komme immer sehr spät zum Konzert. Wenn es um sieben beginnt, bin ich um viertel vor sieben da.

Wie fühlt es sich für Sie an, auf der Bühne zu stehen und Applaus zu bekommen?

Wellber: Es ist mir immer etwas peinlich. Für mich kann das alles ohne Applaus stattfinden. Wenn ich eine neue Opernproduktion mache, dann immer ohne Applaus für den Dirigenten zu Beginn. Ich bin schon im Graben, es ist dunkel, ich fange an. Es ist auch für das Theater viel besser, man ist sofort im Stück.

Ein schönes Zitat von Ihnen: „Ich will, dass wir die Kluft zum Publikum auflösen. Oper darf nicht bloß Entertainment sein, das wäre mir zu wenig.“ Können Sie sich vorstellen, wie oft ich das schon gehört habe? Aber trotzdem hat gerade Oper immer noch dieses elitäre Aroma. Gerade für Sie, mit Ihrem Background, muss es dann in der Münchner Oper doch schrecklich, vor lauter Zahnärzten, Anwälten und Großgrundbesitzern zu dirigieren.

Wellber: Die beste Antwort steht in der Musik. Bei mir ist es keine politische Antwort, es ist eine künstlerische Antwort. Ich habe einen „Tannhäuser“ in Dresden dirigiert, das war sehr interessant. Bei mir ist das Orchester nicht marschiert, sie haben es nicht à la „Deutschland über alles“ gespielt, sie haben gebetet. Die Botschaft war eine andere.

Kommt Barenboim noch mal zur Kontrolle vorbei, ob es so seine Richtigkeit hatte, dass er Ihnen in den Karriere-Startblock geholfen hat?

Wellber: Hier und da essen wir etwas oder sprechen am Telefon, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ich mag es sehr, etwas der Underdog zu sein. Es gefällt mir nicht, Teil einer Gruppe zu sein, für mich ist es besser, allein zu bleiben.

Wie erklären Sie Ihrer kleinen Tochter, was Sie den ganzen Tag machen?

Wellber: Sie ist fünf, was sie schon gemerkt hat, und das ist sehr cool und auch sehr tief: Auf Italienisch sagt man „Maestro“, das heißt Lehrer. Auch ihre Lehrerin in der Schule heißt Maestro und sie hat gefragt: Du arbeitest nicht in der Schule, warum bist Du auch ein Maestro? Aber sie hat recht. Was macht der Dirigent? Ich lehre nicht, aber ich muss ein Geheimnis haben. Ich weiß etwas, das niemand weiß. Luc Bondy, ein fantastischer Regisseur, hat mir gesagt, als ich sehr jung war: Du hast ein Geheimnis. Es ist sehr wichtig für einen Künstler, ein Geheimnis zu haben. Und der Künstler selbst weiß nicht, was es ist.

Charisma. 100 Menschen betreten eine Bühne, bei 98 passiert gar nicht, bei zwei aber passiert es.

Wellber: Bill Clinton hat einmal gesagt: Es gibt Leute, die Licht brauchen. Und es gibt welche, die Licht haben. So american!

Wo sehen Sie sich in zehn Jahren: Premierminister in Israel, Bürgermeister von Tel Aviv oder Musikdirektor bei den Bayreuther Festspielen?

Wellber: Bayreuth ist eine gute Frage… Bayreuth wäre interessant für mich, wenn dort nicht nur Wagner gespielt würde. Dann kann ich mich dort finden. Vor diesen Kult-Geschichten habe ich Angst. Bürgermeister, ich weiß nicht. Jetzt bin ich erstmal sehr neugierig, was in der Wiener Volksoper kommt. Wir veranstalten eine große Revolution im Haus, alles wird umgedreht. Was kommt in zehn Jahren? Ich hoffe, dass es mit Wien zu tun haben wird.

Buch: Omer Meir Wellber / Inge Kloepfer „Die Angst, das Risiko und die Liebe: Momente mit Mozart“ (Ecowin, 128 S., 14 Euro). Roman: „Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner“ (Berlin Verlag, 208 S., 22 Euro).