Hamburg. Pianist Rudolf Buchbinder kommt im November in die Laeiszhalle. Ein Gespräch über das Üben, die Karriere und den Rest des Lebens.

„Wenn man mit 20, 30 Jahren alles erreicht hat, was macht man dann mit 60?“ Rudolf Buchbinder ist 74, hat enorm viel erreicht – und macht einfach weiter. Buchbinder ist ein Phänomen, und das seit Jahrzehnten. Er spielt und spielt und spielt, sehr oft Beethoven, dessen Hauptwerke für Klavier hat der Wiener Pianist schon mehrfach aufgenommen. Am 17. November spielt Buchbinder in der Laeiszhalle.

Hamburger Abendblatt: Etwas ganz Einfaches zum Reinkommen: Was ist das schlechteste Stück von Beethoven?

Rudolf Buchbinder: Es gibt natürlich Stücke, die nicht die besten sind. Das Klavierstück „Lustig und traurig“ gehört sicherlich nicht zu seinen stärksten.

Was ist sein bestes Stück?

Buchbinder: Das beste gibt es nicht, es gibt so viele besten.

Stimmt es, dass Sie quasi zufällig Pianist geworden sind, weil bei Ihnen zu Hause ein Klavier stand? Niemand hat sie dorthin geschubst?

Buchbinder: Nein, wenn man geschubst wird, soll man gleich aufhören. Ich bin in ziemlich ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, mein älterer Bruder lernte etwas Klavier, und auf dem gemieteten Klavier standen ein Radio und eine Beethoven-Büste. Fragen Sie mich nicht, warum. Diese schwarz-weißen Tasten haben mich schon immer wie ein Magnet angezogen, ich habe versucht, alles aus dem Radio nachzuspielen, ohne Noten lesen zu können. Damals suchte die Musikakademie per Zeitung junge Talente, ich habe mit fünf die Aufnahmeprüfung gemacht.

… mit dem Schlager „Ich möchte gern Dein Herz klopfen hören“ …

Buchbinder: sicher in C-Dur… Bis dahin war der Geiger Fritz Kreisler der jüngste Student dort, den habe ich dann überholt, konnte noch nicht lesen und nicht schreiben. Und ich hatte zeit meines Lebens nicht einen einzigen Einzelunterricht.

Das Debüt im Wiener Musikverein mit elf Jahren und einem Beethoven-Klavierkonzert – Sie hätten danach ganz tragisch als Wunderkind schnell wieder in der Versenkung verschwinden können. Wieso eigentlich nicht?

Buchbinder: Ich wollte von Beginn an immer Pianist werden. Ein kurzer Traum war Dirigent, ein anderer Tenor, aber meine Stimme ist einmalig, die klingt auch im Badezimmer nicht … In meiner Jugend habe ich alles genossen, auch leidenschaftlich Fußball gespielt, zum Leidwesen vieler auch im Tor.

Trotzdem: Dann kommt die Phase, in der es ernst wird.

Buchbinder: Mein Glück, bei meiner gesamten Karriere: Dass ich nie eine Sensation war. Denn die kann man nicht wiederholen. Es war eine Karriere ohne Unterbrechungen. Mein Vorbild war Claudio Arrau, der am Ende seines Lebens den Höhepunkt seiner wunderbaren Karriere erlebte. Nie ganz oben, nie ganz abgestürzt. Man kann als 20-Jähriger ja nicht ganz oben sein. Es gibt ein paar – aber die sind sehr arm. Wenn man mit 20, 30 Jahren alles erreicht hat, was macht man dann mit 60?

Sie waren immer da, ein sehr solider Dienstleister an der Musik. Star-Allüren gab es eher nicht. Sie wollten Musik machen.

Buchbinder: Ich hatte das Glück, mit Menschen wie Nathan Milstein, Wilhelm Backhaus oder David Oistrach aufzuwachsen. Das waren die normalsten Menschen. Das habe ich mir eingeprägt und mein Leben darauf eingestellt.

Schöner so?

Buchbinder: Fantastisch. Und viel gesünder. Joachim Kaiser sagte 30 Jahre nach meiner ersten Einspielung der Beethoven-Sonaten zu mir: Rudi, du musst die noch einmal aufnehmen. Jetzt bist du frei. Also habe ich sie in der Semperoper eingespielt und noch einmal bei den Salzburger Festspielen, wieder live. Dreimal genügt.

Sie haben einen Hang zum Enzyklopädischen: Haydn, Beethovens Sonaten, die Diabelli-Variationen. Sie tendieren zum Repertoire-Klotz.

Buchbinder: Den Geiger Nikolaj Znaider habe ich einmal gefragt, wozu er auch dirigieren muss. Er sagte: Tschaikowsky hat nur ein Violinkonzert geschrieben, ich möchte alles andere kennenlernen.

Ist Beethoven für Sie Klassiker oder Romantiker?

Buchbinder: Das ist eine sehr gute, sehr richtige Frage. Für mich ist Beethoven der romantischste Komponist überhaupt.

Haben Sie je das Gefühl gehabt, sie müssten das mal auf einem historisch korrekten In­strument ausprobieren?

Buchbinder: Nein, nie. Kein Instrument hat eine so fantastische Entwicklung gehabt wie das Tasteninstrument. Seit 300 Jahren ist die Geige gleich. Beethoven hat schon auf seinem scheußlichen Klavier für uns manchmal unspielbare Dinge geschrieben. Wenn er ein heutiges Klavier zur Verfügung gehabt hätte … Gott sei Dank hat er’s nicht gehabt, es ist schon schwer genug. Ich hatte einige historische In­strumente, weil ich herausfinden wollte, wie es geklungen haben mag. Aber ich fahre heute ja auch nicht mehr mit einem Fiaker ins Konzert.

Der andere Beethoven-Klotz: seine Diabelli-Variationen. Wie kam die Idee für das „Diabelli-Projekt“ zustande?

Buchbinder: Mich hat immer interessiert, wie es aussähe, wenn es einen „Vaterländischen Künstlerverein“ von damals in der Jetztzeit geben würde. Dann kam das Beethoven-Jahr, eine Gelegenheit für ein Remake. Zwölf Komponisten habe ich gefragt, es sind leider nur elf geworden, weil Penderecki starb. Und sie so brutal gereiht wie Diabelli: alphabetisch. Dadurch ist eine perfekte Dramaturgie entstanden.

Mussten Sie alle Zulieferer zunächst auf diese Arbeit einnorden?

Buchbinder: Die Begeisterung war von jedem sensationell. Bei einem Klavierabend in der Suntory Hall in Tokio kam Toshio Hosokawa mit seinem Stück ins Künstlerzimmer, das war ein rührender Moment. Jeder der Originale damals wollte sich an Virtuosität überbieten. Und plötzlich kommt eine Variation, wo sie das Genie hören: Franz Schubert, der eine langsame Variation in c-Moll schrieb. Und dann kommt Hosokawa, mit einer langsamen Variation in c-Moll.

Haben Sie ein Einheitshonorar gezahlt?

Buchbinder: Sie haben alle dasselbe bekommen. Bis auf Tan Dun, der hat eine wunderbare Variation geschrieben, nur eine Seite mit Wiederholungen. Er hat sich entschuldigt, dass es so kurz ist, und er wollte dafür kein Geld.

Sie haben auch alle fünf Beethoven-Konzerte aufgenommen, jedes mit einem anderen Dirigenten: Gergiev, Jansons, Thielemann, Nelsons und Muti. Haben Sie gelost, wer was übernimmt?

Buchbinder: Mit Mariss Jansons hat mich eine unglaubliche innere Verbindung geprägt. Wir hatten so viele Pläne … Drei Tage vor seinem Tod habe ich noch stundenlang mit ihm telefoniert. Er sagte, Rudi, es ist so schrecklich, mit meinen Füßen steige ich in meinen Stiefeln in mein Blut. Jetzt habe ich eine Gänsehaut … An meinem Geburtstag habe ich einen Klavierabend in St. Petersburg, mit Schuberts B-Dur-Sonate, und an dem Tag stirbt Mariss Jansons, in St. Petersburg. Ich hatte versucht, vor dem Konzert einige Worte zu sagen, was mir nicht gelang. Dieses Konzert ist unvergesslich für mich. Ebenso das 2. Beethoven-Konzert. Für die Aufnahme hatte ich mir gedacht, das ist sein Lieblingskonzert, also musste ich das mit Mariss spielen. Und Muti sagte: Rudi, wir machen das 5. Das 4., das tiefste Konzert von allen, war mit Thielemann.

Ein O-Ton von Ihnen: „Wahrscheinlich übe ich öfter ohne das Klavier als mit dem In­strument.“

Buchbinder: Den ganzen Tag. Wenn meine Frau mit mir spricht, weiß sie ganz genau, dass ich dabei an Musik denke und im Kopf arbeite. Zeitlebens habe ich nie mehr als maximal zwei Stunden am Tag geübt.

Fühlen Sie sich eher als Dienstleister der Musik oder als Künstler?

Buchbinder: Das ist die Frage: Wer ist die Nummer 1 auf der Bühne? Diese großen Meister haben uns etwas geschenkt, das wir benutzen dürfen. Wenn jemand ins Konzert geht – will er Beethoven hören oder will er diese Person hören, wie sie Beethoven spielt oder dirigiert? Ich glaube, eher das. Ich versuche meine Interpretation dem Publikum näherzubringen. Das Wichtigste ist: Man darf es nicht allen recht machen, dann ist man ja Mittelmaß. Ich verstehe, wenn mich manche ablehnen.

Da Sie wie ein rüstiger 37-Jähriger wirken – wann, glauben Sie, beginnt Ihre Alterskarriere?

Buchbinder: Hat sie schon begonnen? Ich weiß es auch nicht.

Konzert: 17.11. 20 Uhr, Laeiszhalle, Gr. Saal, „Das Diabelli-Projekt“, Karten und Infos: www.elbphilharmonie.de