Hamburg. Die szenische Lesung „Der Mann, der die Welt aß“ macht es weder dem Regisseur noch dem Publikum leicht.
Eigentlich ist es lustig, was Stefan Stern hier spielt. Einen Möchtegern-Solitär, der nicht einmal das kleine, bürgerliche Leben hinbekommen hat. Job: weg. Frau: weg. Kinder: weg, interessieren ihn aber auch nicht wirklich. Stattdessen konstruiert er sich eine Illusion der eigenen Überlegenheit, bekommt als Ausbruch aus dem Spießerleben allerdings gerade mal hin, seine Haare als lächerliches Pferdeschwänzchen zu tragen. Ein Unsympath, wenn auch einer, dem man amüsiert beim Abstieg zuschaut.
Bloß: Nis-Momme Stockmanns Stück „Der Mann, der die Welt aß“, ist nicht wirklich ein amüsantes Stück. Und die szenische Lesung, die Moritz Reichardt im Nachtasyl eingerichtet hat, täuscht zwar immer wieder das Amüsement in komödiantischen Szenen an, aber nur, um einem kurz darauf in die Magengegend zu schlagen.
Theaterkritik: Hinter der Komik lauert die Aggression
Der Vater des Protagonisten erkrankt an Demenz und zieht beim unwilligen Sohn ein. Zunächst gibt das noch ein paar charmante „Honig im Kopf“-Szenen her: Der wieder zum Kind gewordene Alte zeigt dem eigenen Kind, um was es wirklich geht. Doch dann kippt die Handlung in gefährliche Überforderung, um kurz vor Schluss in ein erschreckend brutales Finale zu münden. „Der Mann, der die Welt aß“ mag daherkommen wie eine Komödie, erzählt aber von häuslicher Gewalt.
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Und wie das Stück seine eigentliche Intention geschickt verschleiert, setzt auch Reichardts Inszenierung zunächst stark auf die Komik der Vorlage. Stern also spielt mit zurückgenommener Jämmerlichkeit, und nur an seinen zusammengezogenen Augenbrauen ahnt man, dass da eine Aggression in der Figur brodelt, die mit jedem Publikumslacher größer wird.
Und Oda Thormeyer gibt den Vater (sowie in einzelnen, für die Schärfe des Abends vielleicht gar nicht unbedingt notwendigen, Szenen die Ex-Frau) mit Mut zur Schmiere, entsetzlich hustend und langsam die Kontrolle über den Körper verlierend.
Moritz Reichhardt macht es weder sich selbst leicht noch den Zuschauern
Ja, es ist lustig, zu sehen, wie der Vater beinahe jeden Satz mit den Worten „Mir ist da was ganz Dummes passiert …“ anfängt, und wie der Sohn daraufhin die Augen verdreht. Aber es ist auch herzzerreißend, wenn man merkt, dass der Sohn dem Vater nach und nach sein selbstbestimmtes Leben nimmt. Andererseits: Er kann halt nicht anders.
„Der Mann, der die Welt aß“ ist Teil des neuen Thalia-Programms „Freiflug“, in dem Regieassistenten sich an kleineren Formaten ausprobieren können. So klein ist der Abend allerdings gar nicht: Reichardt hat hier einen künstlerisch sicheren Zugriff auf einen Stoff gefunden, der es weder dem Regisseur noch dem Publikum leicht macht.