Hamburg. In der Laeiszhalle präsentierte Lang Lang seine Sicht auf Bachs „Goldberg-Variationen“. Am Ende dankte er mit Beethovens „Für Elise“.

Lang Lang, das war jahrelang vor allem der unbremsbare Turbo-Pianist, der alles noch schneller spielen konnte als sein Schatten, und der ratterte schon mächtig schnell über die Tastatur. Großartige Technik, die keinerlei Probleme zu kennen schien, bestechende Klangfarben-Vielfalt aber mitunter eben auch diese sonderbare Interpretations-Abbiegungen ins Seichte, unnötig Circensische, überladen Gefühlige.

Dann warf ihn eine üble Sehnenscheidenentzündung aus der ständigen Überholspur in eine Reha-Pause zum Nachdenken; Corona kam dazu, Reife und Einsicht ebenso. Umdenken tat Not. Nun also – dieses Konzert zur Tournee zur CD hätte vor Monaten passieren sollen – war er wieder zurück im Rampenlicht.

Lang Lang in der Laeiszhalle - ein beeindruckend eigenwilliger Abend

Und fast alles war wie immer, wie vor Frühjahr 2020: „Ausverkauft“, aufgeregte Fans, stehende Ovationen, oft auch der Handy-Bildbetankung wegen, schon vor dem ersten Ton. Die Röchler in den leisen Stellen, garniert mit Garderobenmarkenklimpern und das Handy-Gebimmel mittendrin. Blümchen und Konfekt aus dem Parkett danach, huldvollstes Queen-Mum-Winken zu den Logen beim Auf- und später auch beim Abgang von der Bühne.

Mit 20 Minuten Verspätung, verursacht durch lange 2G-Kontrollschlangen vor dem Eingang der Laeiszhalle, begann im Großen Saal ein beeindruckend eigenwilliger Abend, der den neuen, geänderten, vielleicht wohl auch geläuterten und ernster zu nehmenden Lang Lang zeigen sollte. Und es tat. Er ist immer noch keine 40 Jahre jung, da soll, wird, muss ja noch einiges kommen.

Was kam, war Johann Sebastian Bach. Reiner Bach, später Bach, komplexer Bach sowieso. Aus Lang Langs Perspektive staunend ehrfürchtig betrachtet, ernsthaft nach Tiefe suchend und durch seine rasant sensiblen Fingerspitzen in den modernen Flügel übertragen. Der klang allerdings in den rasanten, mit Trillern übersäten Variations-Läufen unter diesen Händen oft so federnd leicht und sehnig schlank, als wäre es noch kein esstischgroßer Steinway mit reichlich PS unter dem Deckel, sondern ein gut maskiertes spätes Cembalo. In der allerletzten Variation, woher und wie auch immer, zauberte Lang sogar noch den Hauch eines zarten Örgelchen-Klangs in die Mittelstimmen hinein.

Lang Lang zog sich sehr ins Innere der Musik zurück

Mit den monumentalen „Goldberg-Variationen“, die er im letzten Jahr als Comeback-Projekt veröffentlicht hat, hatte Lang Lang sich ziemlich fundamental neu erfinden wollen. Und wohl auch müssen. Warum vor diesen Kosmos aus einer Grund-Idee und ihren 30 Variationen noch die harmlos elegische „Arabeske“ von Schumann platziert wurde, um einige Minuten lang besinnliche Biedermeier-Wärme zu verströmen, erschloss sich nicht. Störte aber wenigstens nicht weiter. Ein solches Repertoire-Stützrad, auf Zeit gespielt, hätte der Bach-Zyklus jedenfalls nicht dringend gebraucht. Denn die eigentlichen Überraschungen, Drehungen und Wendungen kamen ja erst anschließend.

Anfang und Ende von BWV 988, die ruhig durchatmende Aria, verstand Lang als vorromantische „Träumerei“-Vorahnung, radikal abgebremst und jede noch so kleine Phrasierungs-Pause ausreizend, als wären wir schon bei leicht graumeliertem Brahms, aber mit weniger komplexen Akkordgrundierungen und mehr barock leuchtenden Verzierungen. Das muss man nicht mögen, weil die Strukturen dadurch so grundsätzlich verschattet werden, aber man kann es durchaus als Zugang eines Suchenden akzeptieren, der in aller Selbstbescheidenheit nach Erkenntnissen und neuen Herausforderungen strebt.

Dieser Bach sollte eben nicht ausschließlich rekonstruieren und deuten, was in den Noten steht und klug geformt werden will, er sollte einen sehr eigenen, auch hörbar enorm subjektiven Charakter enthalten. Lang zog sich dafür sehr ins Innere der Musik, vor allem aber aufrichtig ins eigene Innere zurück, endlich, endlich, anstatt, wie zu oft in früheren Jahren, lediglich funkelnde Pirouetten auf der Oberfläche des jeweiligen Notenmaterials zu drehen, weil er es konnte.

Ein langer, ruhiger Bach, doch in jedem beliebigen Tempo

Die Galerie der Kanon- und Variations-Sätze bestückte Lang Lang mit immer wieder neuen kleinen Panoramen aus Stimmführungs-Konstrukten und kreativem Chaos, das sich wieder und wieder harmonisch rundete und fügte. Dass Lang Langs Technik wieder ganz die alte war, dass ihr die Neujustierung auf Ausdruck statt auf Show sogar weiteren Glanz verleihen konnte, machte den Ablauf dieses Zyklus spannend und über 90 pausenlose Minuten konsequent kurzweilig und anrührend.

Das Ganze ein langer, ruhiger Bach, doch in jedem beliebigen Tempo. Einzig die 16. Variation, die Bergfest-Ouvertüre, mit der die zweite Hälfte des Kreislaufs prunkvoll und majestätisch begann, gönnte sich Lang Lang die große Pranke, um danach einen weiteren Anlauf ins poetisch Analysierende zu nehmen.

Ganz und gar konnte der Virtuose am Ende dann aber nicht aus seiner Opus-Pop-Star-Haut. Er bedankte sich, kein Spaß, mit Beethovens „Für Elise“ für den Beifall und die Begeisterung, tränchenbeschwert und allerliebst dahingegossen. Derart gut und lieblich singend gespielt, dass sogar dieser, gern ins Koma gekitschte Poesiealbum-Klassiker tatsächlich richtig gut sein konnte. Auch das muss man – Lang Lang oder nicht – erstmal schaffen. Man darf jedenfalls wieder gespannt sein, wie und wohin es mit diesem wieder sehr besonderen Musiker weitergeht.

Aufnahme: J.S. Bach „Goldberg-Variationen“ (DG, 4 CDs, Deluxe Edition mit Studio- und Live-Aufnahme, ca. 30 Euro / 2 CDs Standard Edition, ca. 20 Euro / 2 LPs, ca. 27 Euro)