Hamburg. Zubin Mehta dirigierte unvollendet Gebliebenes von Mahler und Bruckner. Für die Willenskraft des Künstlers gab es viel Applaus.
Ein alter, weise und zerbrechlich gewordener Mann betrat das Kraftzentrum seines Lebens, mit vorsichtigen, stolzen, zielstrebigen Schritten. Leicht unsicher, jeder Auf- und Abgang auf die Bühne eine kurze Zitterpartie. Der Aufstieg auf den Sehnsuchtsort Thron fiel schwer.
Auf dem Programm in der Elbphilharmonie am Sonntag standen, ausgerechnet, zwei von Transzendenz umflorte Bruch-Stücke, Abschiedswerke an der Schwelle zur Moderne, die der Tod ins Nichts hatte enden lassen: Von Mahlers Zehnter ist nur der Kopfsatz aufführbar erhalten, Bruckners Neunter fehlt das Finale.
Elbphilharmonie: Zubin Mehta tritt erstmals im Großen Saal auf
Das persönliche Dirigentenpult gehört zum Tournee-Gepäck des alten Mannes, es trägt sein Monogramm „ZM“ und ist mit der roten Florentiner Lilie verziert. 32 Jahre, bis 2017, hatte Zubin Mehta das Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino geleitet, jetzt ist er 85 und hat eine schwere Krankheit hinter sich. Was man sah. Und hörte. Und was ausgerechnet dieses mit Spannung erwartete Gastspiel – Mehtas erstes Auftreten im Großen Saal der Elbphilharmonie – zur schmerzhaft rührenden Begegnung mit dem Thema Endlichkeit machte, und der Frage, wie man damit umgeht.
Am Vorabend hatte Mehta dort noch Auszüge aus Bergs „Wozzeck“ und Schuberts „Große“ dirigiert, hier aber ging es an Grundsätzlicheres. Es ging um Leben und Tod, aber vielleicht nicht immer in dieser Reihenfolge. Es gab eine Zeit, in der Mehta ein Temperamentspaket war, 1990 der vierte umjubelte Matador bei einer Fußball-WM neben den „Drei Tenören“ abräumend. Das Top-Orchester, bei dem er nicht abonniert war, musste erst noch gegründet werden. Lange her. Vor kurzem hatte Mehta ein Beethoven-Konzert in Florenz wegen Unpässlichkeit auf November vertagt, doch diese Gastspiele in Hamburg, die sollten sein.
Mehta schien froh über das, was kam, und was noch ging
Erinnerungen kamen hoch, schon vor dem ersten Ton: An die Abende, in denen Mariss Jansons vital war, und an jene, in denen er es schon nicht mehr war. An den unbändigen Willen, mit dem sich der greise Günter Wand als NDR-Chefdirigent durch Bruckners Sinfonien ans Licht der Erkenntnisse tiefenbohrte, wieder und wieder. Herbert Blomstedts geradezu jugendliche 94, Christoph von Dohnányis majestätische 92. Und nun also Mehta, der den ersten von vielen sparsam energischen Einsätzen zu Mahlers letztem Adagio gab. Die Streicher gehorchten, aber bereits hier, in der ersten nach Halt suchenden Melodielinie war die Führungsschwäche unüberhörbar.
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Das Orchester spielte in diesem Konzert enorm respektvoll für seinen Ehren-Chef, so gut es konnte, aber nicht, so gut es Mehta von ihnen einforderte. Er schien froh über das, was kam, und was noch ging. Die ganz große, durch und durch beeindruckende Präzision fehlte, im Miteinander dieser herzblutenden Unisoni, in der Ausgewogenheit zwischen den Seeleneruptionen und den zur trügerischen Ruhe findenden Episoden. Das Glühen, das Irrlichtern zwischen dem Gefühl nahender Enden und der wehmütigen Hoffnung auf noch etwas mehr Zeit glomm schwächer, als es aufgeschrieben worden war.
Kein Versinken, ein Einsinken, dieser Mahler hatte viel Bodenkontakt, blieb im soliden Bereich des Ungefähren, anstatt sich ins Zwischenreich des Unendlichen vorzuwagen. Auch der gefürchtet-berüchtigte Neunton-Akkord, die tiefe Wunde, die kurz vor dem Ende im Tutti kreischend aufbricht, blieb eher harmlos. Mag sein, dass Mehta genau wusste, dass er aus Selbstschutz lieber einen gewissen Sicherheitsabstand einhalten musste.
Zubin Mehtas Gesten blieben kapellmeisterhaft sparsam
Ähnlich, aber anders unterwältigend war danach Bruckners Letzte. Mit deutlichen Misterioso-Defiziten zu Beginn des ersten Satzes ging es schon los und es wurde musikalisch nicht überwältigender oder ergreifender, weil Mehta auch hier viel laufen und durchgehen ließ. Seine Gesten blieben kapellmeisterhaft sparsam, was sollte er „seinem“ Orchester nun auch noch Neues beibringen. Die monumentalen Blöcke verklangen nebeneinandergestellt und unverbunden; das heftige Pulsieren des Scherzo-Hauptmotivs war sehr alte Schule, breit ausgebreitet und nicht vehement ins Jetzt gepeitscht, bevor das Adagio-Ende den tragischen letzten Schlussstrich zog.
Der von vielen Herzen kommende Applaus nach dieser zweifachen Abschieds-Sinfonie galt weniger dem musikalischen Ergebnis, sondern wohl vor allem der Willenskraft eines alten, großen, legendären Künstlers. Seinem Mut, unbeirrbar auch Schwäche zu zeigen und getan zu haben, wofür und womit er seit vielen Jahrzehnten lebt. Und der alte Mann schien glücklich und stolz, als er wie in Zeitlupe durch die Bühnentür verschwand und so zur nächsten Erinnerung wurde. Im April, zu seinem 85. Geburtstag, hatte er gesagt: „Musik ist für mich Liebe.“