Hamburg. Das Konzert brachte das Publikum im großen Saal zum Toben. Es war eine packende Mischung aus Präzision und Feuer.

Echt jetzt? Ausgerechnet Vivaldis Vier Jahreszeiten. So ein tausendfach abgenudeltes Stück. Akute Berieselungsgefahr. Müssen wir das wirklich nochmal hören? Aber ja doch, müssen wir, unbedingt! Weil es absolut mitreißende Musik ist – wenn sie so überraschungsprall in die Saiten gebürstet und gestreichelt wird wie von Anne-Sophie Mutter und ihren „Mutter’s Virtuosi“ in der Elbphilharmonie.

Auch nach mittlerweile 45 Jahren auf den wichtigsten Podien der Welt denkt die Stargeigerin nicht daran, in Routine abzugleiten. Im Gegenteil. Sie nimmt Einflüsse auf, erkundet unermüdlich neues Terrain und spielt heute definitiv aufregender und facettenreicher als früher, wie etwa zu Beginn ihrer Karriere, unter Karajans Fittichen.

Anne-Sophie Mutter: Noten schmiegen sich wie zum Schmusen aneinander

Ja, es gibt sie schon, die betörende Süße im Ton, die Mutter wie kaum jemand sonst aus den Saiten schöpft. Im langsamen Satz aus dem „Frühling“, mit seinem dichten Legato, in dem sich die Noten auf ihrer Stradivari aneinanderschmiegen, als wären sie zum Schmusen verabredet. Schöner kann ein Instrument kaum singen.

Aber das ist eben nur eine Farbe von vielen auf ihrer breiten Palette. Mutter streicht auch ganz fahle Klänge, die erst allmählich mit ein bisschen Vibrato aufblühen, etwa im Mittelteil aus dem „Sommer“. Oder sie packt kraftvoll zu, beim zünftigen Sauflied der Bauern, mit dem Vivaldi den Einzug vom Herbst feiert. Das darf ordentlich rumpeln. Und das tut es auch.

Eine packende Mischung aus Präzision und Feuer

Diese Szenen und Kontraste kostet die Geigerin mit ihren „Virtuosi“ aus. Ein eingeschworenes Team aus jungen Spitzenstreicherinnen und -streichern, die Anne-Sophie Mutter fördert, teilweise als Stipendiaten ihrer eigenen Stiftung. Durch die Leihgabe von kostbaren Instrumenten, aber eben auch durch die musikalische Zusammenarbeit wie auf der aktuellen Tournee, die die international besetzte Truppe gleich zweimal in die Elbphilharmonie führt.

Zu elft stehen die jungen Interpreten auf der Bühne, um ihre Mentorin herum gruppiert, sie folgen ihr durch Dick und Dünn, durch Laut und sehr, sehr Leise. Mutter, bekennender Fan der Elbphilharmonie, streckt ihre Fühler mit und ohne Blickkontakt zu ihren Kolleginnen und Kollegen aus und nutzt die luzide Akustik des Saals, um sich mit ihnen bis ins Pianissimo vorzutasten. Ein zartes Saitenflüstern. Und dann bellt plötzlich eine Bratsche ins Idyll, weil sie einen kläffenden Hund imitiert – bevor im nächsten Moment alle zusammen losschrubben, als hätten sie in die Steckdose gefasst. Eine packende Mischung aus Präzision und Feuer, aus historischem Stilempfinden und moderner Interpretation. Kein Wunder, dass das Publikum tobt.

Eine Art Showkampf zwischen zwei Violinen

Die Frischekur für Vivaldis Greatest Hit war der Schluss- und Höhepunkt eines Programms, das den sportlichen Aspekt des Konzertierens ins Zentrum rückte. „Concertare“ – vom Komponisten und Musikgelehrten Michael Praetorius vor vierhundert Jahren mit dem hübschen Wort „Scharmützeln“ übersetzt – beinhaltet eben auch ein Kräftemessen zwischen musikalischen Kontrahenten. Heute würde man „Battle“ sagen.

So einen Wettstreit bot schon das erste Stück: Vivaldis Konzert für vier Violinen, in dem sich die Solistinnen und Solisten aus Mutters Ensemble gegenseitig übertrumpfen und ins Wort fallen, begleitet von perkussiven Akzenten der Celli. Ein geigerisches Gemetzel auf barocke Art.

Das zeitgenössische „Gran Cadenza“ von Unsuk Chin trieb diese Idee im Anschluss noch weiter auf die Spitze. In ihrem Auftragswerk inszeniert die koreanische Komponistin eine Art Showkampf zwischen zwei Violinen, ausgetragen von Anne-Sophie Mutter und der 28-jährigen Nancy Zhou.

Tempo des Duells auf dem Drahtseil ist atemberaubend

Anfangs hackt Zhou ihre Töne fast gewaltsam ins Instrument, während Mutter in höchsten Höhen zirpt und tänzelt. Lieber erstmal Abstand halten und das ganze aus der Ferne betrachten. Doch dann stürzt auch sie sich ins Getümmel und nimmt den Kampf an, bis die beiden in einer Art Choral verschmelzen, mit Doppelgriffen und gleitenden Akkorden.

In welchem Tempo die Geigerinnen ihr Duell auf dem Drahtseil ausfechten – assistiert von zwei Kollegen als Notenwender, die total auf Zack sein und im genau richtigen Moment zum Pult hechten müssen –, ist schlicht atemberaubend. Ebenso wie die Virtuosität und Perfektion, mit der Mutter und Zhou ihre gefühlten Millionen an Tönen zum Funkeln, Gleißen und Glitzern bringen. Alles auf Augenhöhe, versteht sich. Ein klares Unentschieden in einem faszinierenden Fight.

Spiel des Cembalisten bei Vivaldi blieb etwas blass

Der konzertierende Ansatz prägt auch das Es-Dur-Streichquintett von Mozart. Allerdings passt er da nicht ganz so gut, weil er dem intimen Miteinander der Kammermusik manchmal eher im Weg steht. Die unbändige Lust daran, die Freiheiten der eigenen Stimme auszureizen, ist allen fünf anzumerken und hat fraglos ihren Charme. Aber das geht auf Kosten der Homogenität. Im Feintuning reicht die Mozart-Aufführung unter Mutters Ägide nicht an das Niveau von festen Spitzenformationen heran.

Einer der ganz wenigen kleinen Begeisterungsbremser. Ebenso wie das allzu zurückhaltende und etwas blasse Spiel des Cembalisten bei Vivaldi. Er hätte deutlich mehr machen, variieren und hervortreten können, gerade wenn ihm die Streicher ein so durchlässiges Netz anbieten.

Aber das bleibt eine Randerscheinung – und ändert nichts am umwerfenden Gesamteindruck des Abends, nach dem man Vivaldis Dauerbrenner am liebsten gleich noch einmal hören würde.