Hamburg. Kevin Haigen, Leiter der Compagnie, spricht über sein Verhältnis zu John Neumeier und über das neue Stück am Ernst Deutsch Theater.
Im Trainingssaal des Ballettzentrums John Neumeier ist die Probe gerade vorbei. Das Bundesjugendballett erarbeitet hier sein neues Programm, die 13. Ausgabe der jährlichen Reihe „Im Aufschwung“. Zehn Jahre besteht diese Compagnie nun schon. Kevin Haigen, 67, langjähriger Lehrer an der Ballettschule ist von Anfang an künstlerischer und pädagogischer Leiter. Er tanzte selbst viele Jahre im Hamburg Ballett.
Hamburger Abendblatt: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu John Neumeier beschreiben. Was schätzen Sie am meisten an ihm?
Kevin Haigen: Seine künstlerische Reise ist ein nie endendes Wunder. Er geht immer nach vorne. Unsere Tanzwelt ist gesegnet mit vielen Talenten. Aber John ist einmalig. Es geht nicht nur darum, die ganze physische Mechanik zu trainieren, sondern es ist wichtiger, dass die Bewegungen etwas aussagen. Dass wir kreative, offene, sensitive Menschen heranbilden. Deswegen lehrt John, dass es nicht genügt, wenn man eine Bewegung nur zitiert – wie etwa einen Satz von Tennessee Williams – und nicht ganz durch sich sprechen lässt. Dafür muss man ganz einfach und ehrlich mit sich selbst sein. Und jeden Tag an die Stange gehen.
Haigen: Hamburg war ein Meilenstein
Sie haben nach Ihrem Weggang vom Hamburg Ballett als Erster Solist in vielen berühmten Compagnien getanzt, wie den Ballets de Monte-Carlo oder dem Béjart Ballet Lausanne. Was war Ihre wichtigste Erfahrung im Tanz?
Haigen: Ich wollte immer mit einem lebenden Choreografen arbeiten. John Neumeier war richtig für mich. Ich kam von der School of American Ballet von George Balanchine. Wir fühlten uns auserwählt. Ich war talentiert aber ohne Fokus. Hamburg wurde ab 1976 mein bedeutendster Halt auf meiner künstlerischen Reise. Maurice Béjart war später ein wunderbarer Choreograph, ein Philosoph. Er wollte, dass ich bleibe, aber damals suchte John einen Ballettmeister. Und so kam ich nach vielen Stationen zurück nach Hamburg.
Sie unterrichten seit vielen Jahren, zuerst bei den Ballets de Monte Carlo und seit 1991 beim Hamburg Ballett. Worin besteht die Herausforderung, seit 2011 das Bundesjugendballett zu leiten?
Haigen: Ich hatte großartige Lehrer, vor allem Erik Bruhn. Lehren ist eine so große Verantwortung. Man kann nur etwas lehren, was man tief durchdrungen hat. Nicht, was man sich vorstellt, von dem man beeindruckt ist oder das man gelesen hat. Es ist hart für die jungen Leute in unserer heutigen digitalen Welt: Sie haben so viele Möglichkeiten. Sie brauchen eine Richtung. Technik ist im Tanz nur das Werkzeug. Es geht nicht nur um die Pirouette, sondern auch um die Vorbereitung, die Zwischenschritte und den Weg dorthin. Erik lehrte mich seine Ethik: Es geht nicht darum was du machst, sondern wie du es machst.. Und auch John Neumeier wusste immer, dass es nicht darum geht, zu gefallen und Erfolg zu haben, sondern zu berühren.
Hamburg Ballett: Es geht um Selbstständigkeit
Die Tänzerinnen und Tänzer des Bundesjugendballetts wechseln ja alle zwei Jahre und kommen aus aller Welt. Wonach wählen Sie aus?
Haigen: Wir suchen nicht den perfekten Körper. Wer ist schon perfekt? Und wer will das überhaupt? Wir wollen acht unabhängige, selbstständig denkende Individuen. Ich versuche, Ihnen Selbstvertrauen zu geben, das zu erlangen, was sie geben können. Es sind nicht immer die offensichtlichsten, die wir nehmen. Es existiert ein Geheimnis darum, unperfekt, aber genau deswegen der Richtige zu sein. Das ist keine äußere Angelegenheit, sondern eine innere. Auch mit unterschiedlichen oder besonderen körperlichen Herausforderungen ist das möglich. Ich empfinde das als Glück.
Wie würden Sie die vergangenen zehn Jahre mit dem Bundesjugendballett beschreiben?
Haigen Das war eine wundervolle Reise. Man entwickelt eine Kunstform gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern. Für mich war es von Anfang an wichtig, rauszugehen, in Altersheime, ins Gefängnis, mit besonderen Kindern zu arbeiten und auch mal in Turnschuhen auf dem Rasen zu tanzen. Das wichtigste ist ein künstlerisches Geben und Nehmen – auch für die Entwicklung unserer Tänzerinnen und Tänzer.
Einflüsse anderer Kunstformen
Das klassische Training steht im Mittelpunkt. Wie groß ist der Freiraum für zeitgenössische Bewegungen?
Haigen Natürlich muss man die Tradition ehren. Aber wir haben das Glück, mit Raymond Hilbert einen Ballettmeister zu haben, der an der Palucca-Hochschule in Dresden ausgebildet wurde. Ich denke, es sollte keinen Kampf der Genres geben. Und ich glaube, dass Bewegungen Hingabe und einen spirituellen Körper verlangen. Das ist nicht nur Improvisation von Gefühlen. Beim Bundesjugendballett vereinen wir viele Einflüsse, wie zum Beispiel Hip-Hop, und arbeiten mit Theater und Musik. Alle Kunstformen sind bei uns gleichberechtigt.
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Was steht im Zentrum des neuen Stücks „Im Aufschwung XIII“, das sich unter anderem aus Kreationen von John Neumeier und Musik von Bach, etwa der Matthäus-Passion, Magnificat und den Bach Suiten 2 und 3 speist?
Haigen John Neumeier wollte nicht, dass das Bundesjugendballett nur seine Choreographien tanzt. Es war von Beginn an seine Vision, eine lebendige junge Compagnie zu gestalten. Beim Bundesjugendballett fördern wir die Kreativität der jungen Leute und lassen sie eigene Stücke entwickeln. Für „Im Aufschwung XIII“ im Ernst Deutsch Theater haben beispielsweise drei Tänzer eigene Choreografien kreiert, die dort Premiere feiern. Im ersten Akt zeigen wir außerdem Stücke, die ihre Wurzel in anderen Projekten haben. Unsere Priorität ist nicht, einem Ego zu huldigen, sondern immer wieder ein neues Repertoire aufzubauen. Wir wollen eigenständige junge Persönlichkeiten haben, keine Marionetten.
Bundesjugendballett: „Im Aufschung XIII“ 15.11., 16.11., 18.11., 19.11., jew. 19.30, Ernst Deutsch Theater, 3G, Karten: T. 22 70 14 20; www.ernst-deutsch-theater.de